Freud und das Vermächtnis des Moses. Richard J. Bernstein
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Freud zieht die Analogie von Mord und Textentstellung zur Charakterisierung der (angeblichen) Beseitigung des Textes über die Ermordung Moses’ heran. Haben die frommen biblischen Schriftsteller den Mord an Moses verheimlichen wollen, so ist es nun die Aufgabe des (psychoanalytisch-) detektivischen Historikers, diejenigen Spuren des Mordes, die noch nicht vollkommen verwischt wurden, lesbar zu machen.
Wir können diese Analogie freilich auch auf Freuds eigenen Text anwenden – ein Text, der selber „fast in allen Teilen auffällige Lücken, störende Wiederholungen, greifbare Widersprüche“50 aufweist. Was aber wurde dann hier entstellt und beseitigt? Was könnte Freud „in seiner Erscheinung verändert“ und „an eine andere Stelle“ gebracht haben? Wir haben jedenfalls allen Grund anzunehmen, daß es solche Entstellungen gibt. Erinnern wir uns etwa der Eingangspassage von Freuds Abhandlung: „Aber es ist wiederum nicht das Ganze und nicht das wichtigste Stück des Ganzen.“51 Was also ist das Ganze, und: Lassen sich in dieser Abhandlung Spuren des wichtigsten Stücks des Ganzen entdecken?
Man wird diese Fragen angemessen sicher nicht ohne die Betrachtung der dritten und wichtigsten Abhandlung, „Moses, sein Volk und die monotheistische Religion“, beantworten können. Ich möchte trotzdem einen Schritt zurückgehen und noch einmal die beiden ersten Abhandlungen heranziehen – Abhandlungen, die zu einem Zeitpunkt publiziert wurden, als Freud noch in Wien lebte und die allgegenwärtige Bedrohung der europäischen Juden (und der Disziplin der Psychoanalyse) allerorts spüren konnte.
Lassen wir also noch einmal unsere Zweifel und Vorbehalte beiseite und nehmen an, Freuds Behandlung des Themas sei mehr oder weniger historisch korrekt. Zu welchen Erkenntnissen ist Freud bisher gelangt? Hier seine prägnante Zusammenfassung:
„Hiermit wäre ich zum Abschluß meiner Arbeit gelangt, die ja nur der einzigen Absicht dienen sollte, die Gestalt eines ägyptischen Moses in den Zusammenhang der jüdischen Geschichte einzufügen. Um unser Ergebnis in der kürzesten Formel auszudrücken: Zu den bekannten Zweiheiten dieser Geschichte – zwei Volksmassen, die zur Bildung der Nation zusammentreten, zwei Reiche, in die diese Nation zerfällt, zwei Gottesnamen in den Quellenschriften der Bibel – fügen wir zwei neue hinzu: Zwei Religionsstiftungen, die erste durch die andere verdrängt und später doch siegreich hinter ihr zum Vorschein gekommen, zwei Religionsstifter, die beide mit dem gleichen Namen Moses benannt werden und deren Persönlichkeiten wir voneinander zu sondern haben. Und alle diese Zweiheiten sind notwendige Folgen der ersten, der Tatsache, daß der eine Bestandteil des Volkes ein traumatisch zu wertendes Erlebnis gehabt hatte, das dem anderen fern geblieben war. Darüber hinaus gäbe es noch sehr viel zu erörtern, zu erklären und zu behaupten. Erst dann ließe sich eigentlich das Interesse an unserer rein historischen Studie rechtfertigen. Worin die eigentliche Natur einer Tradition besteht und worauf ihre besondere Macht beruht, wie unmöglich es ist, den persönlichen Einfluß einzelner großer Männer auf die Weltgeschichte zu leugnen, welchen Frevel an der großartigen Mannigfaltigkeit des Menschenlebens man begeht, wenn man nur Motive aus materiellen Bedürfnissen anerkennen will, aus welchen Quellen manche, besonders die religiösen Ideen die Kraft schöpfen, mit der sie Menschen wie Völker unterjochen – all dies am Spezialfall der jüdischen Geschichte zu studieren wäre eine verlockende Aufgabe. Eine solche Fortsetzung meiner Arbeit würde den Anschluß finden an Ausführungen, die ich vor 25 Jahren in Totem und Tabu [1912-13] niedergelegt habe. Aber ich traue mir nicht mehr die Kraft zu, dies zu leisten.“52
Abermals eine eloquente, eine bewegende, aber ausweichende Schlußfolgerung. Freud erwähnt die Ermordung Moses’ nicht explizit. Er nennt sie nur implizit: Ein Teil des Volkes habe „ein traumatisch zu wertendes Erlebnis“ gehabt. Man könnte fast von einer Parallele zwischen Freud und dem biblischen Moses sprechen – Moses führt die Israeliten in das gelobte Land, betritt es aber nicht mehr. Und der Schlußabsatz ist voller Versprechen – Versprechen, die der alternde, dem Ende seines Lebens sich nähernde Freud vielleicht niemals einzulösen vermocht hätte. Bis hierher hat uns Freud eine schlüssige Geschichte erzählt, aber ihre Bedeutung, insbesondere ihr psychoanalytischer Gehalt, ist damit noch nicht zum Vorschein gekommen. Freud verweist darauf, es sei noch „viel zu erörtern“, in dessen Licht sich erst „das Interesse an unserer rein historischen Studie rechtfertigen“ ließe.
Rufen wir uns auch das Ende der ersten Abhandlung noch einmal ins Gedächtnis zurück. Freud schrieb dort, daß, wenn wir „Ernst […] machen mit der Annahme, daß Moses ein vornehmer Ägypter war“, sich „sehr interessante und weitreichende Perspektiven“ ergäben. Es ließe sich auf dieser Basis eine „mögliche Begründung von zahlreichen Charakteren und Besonderheiten der Gesetzgebung und der Religion, die er dem Volke der Juden gegeben hat“, erfassen, und wir würden außerdem „selbst zu bedeutsamen Ansichten über die Entstehung der monotheistischen Religionen im allgemeinen angeregt“53 – ein Versprechen, das Freud zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs eingelöst hat. Was also haben diese angeblich historischen Ereignisse aus der Mitte des vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts mit dem jüdischen Volk heute zu tun? Und was heißt dies für die These, die ich meinen Untersuchungen vorangestellt hatte: daß wir in Der Mann Moses und die monotheistische Religion Freuds Antwort auf die Frage nach dem Wesen des (bzw. seines) Judentums finden? Wenn wir auch erst mit einer genauen Untersuchung der dritten Abhandlung diesen Antworten näherkommen werden, so glaube ich doch, daß sich bereits Spuren der von Freud vorgeschlagenen Lösung abzeichnen.
Moses’ Monotheismus: Erste Hinweise
Um zeigen zu können, daß wir wesentliche Andeutungen auf Freuds zentrale These bereits erhalten haben, möchte ich eine grundlegende Frage an seine historische Darstellung richten, die ich bislang noch nicht genauer ausgeführt habe. Sollten die ägyptischen Semiten tatsächlich Moses ermordet haben, was waren ihre Motive? Schlicht gefragt: Warum haben die Juden Moses getötet? Um dies zu beantworten, sollten wir zunächst Freuds Verständnis jener monotheistischen Religion untersuchen, die die Juden sich aufgebürdet hatten. Die gesamte zweite (und ausdrücklicher noch die dritte) Abhandlung durchzieht eine subtile, aber äußerst aufschlußreiche Aufwertung der „geistigen“ Bedeutung des Monotheismus gegenüber den „primitiveren“ Formen des Polytheismus.54 Wenden wir uns deshalb einigen Details in Freuds historischer Darstellung der Ursprünge der Aton-Religion in Ägypten und ihren Beziehungen zum jüdischen Monotheismus zu.
Die „auf Moses zurückgeführte[…] jüdische[…] Religion“ ist „ein großartig starrer Monotheismus; es gibt nur einen Gott, er ist einzig, allmächtig, unnahbar; man verträgt seinen Anblick nicht, darf sich kein Bild von ihm machen, nicht einmal seinen Namen aussprechen.“55 Freud stellt dies zunächst so dar, als stünde diese Charakterisierung seiner Behauptung vom ägyptischen Ursprung der jüdischen Religion vollkommen entgegen. In der Zeit vor Echnaton war die ägyptische Religion ein ungebrochener und „primitiver“ Polytheismus. Der Unterschied von mosaischer Religion und ägyptischem Polytheismus zeigt sich als der „schärfste[…] Gegensatz“56.
„In der ägyptischen Religion eine kaum übersehbare Schar von Gottheiten verschiedener Würdigkeit und Herkunft, einige Personifikationen von großen Naturmächten wie Himmel und Erde, Sonne und Mond, auch einmal eine Abstraktion wie die Maat (Wahrheit, Gerechtigkeit) oder eine Fratze wie der zwerghafte Bes, die meisten aber Lokalgötter aus der Zeit, da das Land in zahlreiche Gaue zerfallen war, tiergestaltig, als hätten sie die Entwicklung aus den alten Totemtieren noch nicht überwunden, unscharf voneinander unterschieden, kaum daß einzelnen besondere Funktionen zugewiesen sind.“57
Demgegenüber verdammt die mosaische Religion Magie und Zauberei auf das Strengste. Sie erläßt „das rauhe Verbot