Fontanes Kriegsgefangenschaft. Robert Rauh
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Fontanes Kriegsgefangenschaft - Robert Rauh страница 6
Ich machte meine Notizen: Geburtshaus der Jeanne d’Arc in Domrémy, Fontanes Skizze vom 5. Oktober 1870, Notizbuch D6
Alles war Poesie
Um drei Uhr etwa fuhren sie in die Hauptstraße von Domrémy ein. Fontanes Eindruck, trotz hellen Sonnenscheins und des weißen Anstrichs der Häuser, war ein düsterer; alles schien auf Verfall und Armut hinzudeuten. Der Kutscher hielt vor einem rußigen, anscheinend herabgekommenen Gasthause, das in verwaschenen Buchstaben die Inschrift trug: »Café de Jeanne d’Arc«. Es war unheimlich.
Domrémy hat seitdem nicht viel getan, um seinen Besuchern einen besseren Eindruck zu vermitteln. Auch heute strahlt die Sonne vom Himmel, aber die Einfahrt in die Hauptstraße lässt keine Freude aufkommen. Die Häuser sind ergraut und die Fenster mit Rollläden verschlossen. Nirgends Blumen vor den Häusern; stattdessen sprießt Unkraut. Wir halten vor dem schmucklosen Hotel Jeanne d’Arc, dessen heruntergelassene Jalousien und verwitterter Anstrich darauf hindeuten, dass es die besten Tage hinter sich zu haben scheint. Gegenüber ein Imbiss und daneben ein Souvenirshop, die beide den Versuch unternehmen, Touristen nicht sich selbst zu überlassen. Wie Fontane haben wir vor, uns diesem Eindruck zu entziehen – und suchen unverzüglich die geweihte Stätte auf, wo »la Pucelle« geboren wurde. Es sind nur hundertfünfzig Schritt; in einem Stück Gartenland liegt das ehrwürdige Gemäuer.
Pilgerstätte bis heute: Geburtshaus der Jeanne d’Arc in Domrémy, 2020
Nachdem Fontane die Glocke an einem sauberen drahtgeflochtenen Gittertor gezogen hatte, das den Garten von der Straße schied, öffnete eine Nonne, die ihn hineinbat und durch das Haus führte. Als er in der Nische über der niederen Eingangstür das in Stein gemeißelte Bild der gewappneten Jungfrau und im Haus den alten eichenen Wandschrank sah, der Jeanne d’Arc jahrelang als Truhe gedient hatte, fiel alles Misstrauen von ihm ab; Fontane fühlte sich ganz dem Zauber dieser Stunde hingegeben.
In Kriegsgefangen ergänzt der Reisende den eher seltenen Hinweis: Ich machte meine Notizen.[14] Und da das Notizbuch erhalten ist, erfährt man, dass Fontane weitaus mehr über seinen Rundgang in der heiligen Stätte festgehalten hat. Es seien nur drei Details genannt, die heute noch zu sehen sind: gleich im ersten Raum ein großer alter Kamin links an der Wand, in der Mitte eine Statue der Jungfrau in Bronze, 2 Fuß hoch [jetzt in einer Ecke platziert] sowie das leere, drei halbe Arme im Quadrat große Schlafzimmer mit einem kleinen Lochfenster.[15]
Sich jedes Kleinste einprägend: Dorfkirche Saint-Rémy (Jeanne d’Arcs Taufkirche) in Domrémy, links vor dem Portal die Statue der Jeanne d’Arc, Postkarte, um 1900
Das Haus selbst ist heute Teil eines Museums. Um es zu besichtigen, muss man zunächst einen modernen Anbau passieren, in dem freundliche und auskunftsbereite Mitarbeiter darauf hinweisen, dass der Besucher keinen Eintritt bezahlen, aber die coronabedingte Maske aufsetzen muss. Wir passieren den Anbau, in dem mittels Animationen die »Gesichter der Jeanne d’Arc« präsentiert werden, dann den Garten, in dem es – im Gegensatz zum Ort – grünt und blüht, und gelangen schließlich in das märchenhaft anmutende Häuschen mit dem schiefen Dach. An diesem heißen Junitag sind wir überall allein, können in Ruhe Fotos machen und die Gegebenheiten mit Fontanes Notizen abgleichen. Dann treten wir zurück in den Garten und versenken uns noch einmal in den Anblick dieses in Geschichte und Dichtung gleich gefeierten Ortes. Fontane geriet in einen Sinnestaumel – alles war Poesie.
Romantisch auch die Dorfkirche, in der Jeanne d’Arc getauft wurde und die zusammen mit dem Geburtshaus auf der linken und dem Hotel Jeanne d’Arc auf der rechten Seite eine filmreife Kulisse bietet. Fontane verweilte wohl eine Viertelstunde in der Kirche, sich jedes Kleinste einprägend. Dann trat er wieder vor das Portal der Kapelle, zu deren Linken sich eine Statue der Pucelle erhebt. Das Denkmal befindet sich heute, gut zweihundert Meter vom alten Standort entfernt, zwischen zwei Linden und – weniger romantisch – vor einem Besucherparkplatz. Die Jungfrau kniet im Gebet, presst die linke Hand aufs Herz, während sie die rechte gen Himmel hebt. Ausgerechnet hier, vor dem Denkmal der Jeanne d’Arc, fand Fontanes Fahrt ins alte, romantische Land ein jähes Ende.
Filmreife Kulisse: Dorfkirche Saint-Rémy (ohne Statue der Jeanne d’Arc) und Hotel Jeanne d’Arc in Domrémy, 2020
Verhaftung
Fontanes Urteil über das 1855 von Eugène Paul geschaffene Denkmal der Jeanne d’Arc war schnell gefällt: eine wohlgemeinte, aber schwache Arbeit. Als er dann mit seinem Stock an die Statue klopfte, um sich zu vergewissern, ob es Bronze oder gebrannter Ton sei, sah er eine Gruppe von Acht bis zwölf Männern, […] ziemlich eng geschlossen und untereinander flüsternd auf sich zukommen. Fontane stutzte, ließ sich in seiner Untersuchung aber nicht stören und fragte unbefangen, als sie heran waren, ob sie wüssten, aus welchem Material die Statue gemacht sei. Man antwortete ziemlich höflich, sie bestünde aus Bronze. Die Männer zeigten jedoch keinerlei Interesse, mit dem Fremden über kunsthistorische Fragen zu fachsimpeln. Stattdessen verlangten sie seine Papiere. Und weil es ihnen nicht gelang, sich darin zurechtzufinden, forderten sie Fontane auf, ihnen zur Überprüfung seiner Angaben in das Wirtshaus zu folgen.
Eine wohlgemeinte, aber schwache Arbeit: Statue der Jeanne d’Arc in Domrémy, 2020
Noch glaubte Fontane, die Situation im Griff zu haben. Die ganze Szene, so peinlich sie war, hatte nicht gerade viel Bedrohliches. Im Gegenteil: Nach dem Eintritt in das Café Jeanne d’Arc schien sie ein immer helleres Licht gewinnen zu wollen. Es wurden Wein und Reimser Biskuit herumgereicht und Fontane ergriff die Gelegenheit, den umstehenden, mehrheitlich angetrunkenen Dorfbewohnern, deren Zahl von Minute zu Minute wuchs, zu erklären, dass er sich auf einer Recherche-Tour für ein Buch über den noch andauernden Deutsch-Französischen Krieg befände und dass er heute eine spezielle[n] Exkursion nach Domremy, in den Geburtsort der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc, unternommen habe. Alles wurde wohlwollend aufgenommen.
Aber der kleine Lichtstrahl, der eben durchbrechen wollte, sollte bald wieder schwinden. Erst wurde die zuhörende Gesellschaft überrascht von einem poignard [Dolch], den ein junger Bauer aus Fontanes Stock zog, dann von seinem Revolver, der zum Vorschein kam, als Fontane aufgefordert wurde, seine Reisedecke auszuwickeln. Die Waffe ging von Hand zu