Fontanes Kriegsgefangenschaft. Robert Rauh
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Dass er sich geirrt hatte, zeigte der Auftritt des Capitaine. Der Offizier nahm den Bericht des Souspräfekten entgegen, warf dann und wann ein kurzes Wort ein und blickte, scharf musternd, mit seinen dunklen Augen zu Fontane herüber. Der hielt dem Blick des Capitaine stand, weil er sich nicht provozieren lassen wollte, weil er sich unschuldig fühlte und weil er davon überzeugt war, dass man durch Sichkleinmachen noch nie das Herz eines Feindes erobert hat.
Schließlich wandte sich der Capitaine mit einigen Fragen an Fontane, der erneut entschieden verneinte, ein officier prussien zu sein. Aber es gelang ihm nicht, den französischen Offizier von seiner Unschuld zu überzeugen, geschweige sein Herz zu erobern. Fontane wurde wieder abgeführt – diesmal direkt in das Gefängnis der Stadt, ein weitschichtiges Gebäude, wo ihn der Capitaine zunächst in die Wohnung des Greffier [Gerichtsschreibers] von Neufchâteau brachte. Als der Greffier sich erhob und ihnen entgegenschritt, war Fontane wie vom Donner getroffen. Vor ihm stand das leibhaftige Ebenbild seines Vaters, der vor drei Jahren, fast um dieselbe Stunde, verstorben war. Hier sah er ihn wieder, frisch, lebensvoll, hoch aufgewachsen, mit breiten Schultern und großen Augen, im Auge jene Mischung von Strenge und Gutmütigkeit, wie sie ihm eigentümlich gewesen war. Bevor Fontane über die Sinnestäuschung nachdenken konnte, wurden letzte Zweifel beseitigt, in welcher Lage er sich befand. Der Capitaine übergab ihn dem Gerichtsschreiber, der den wohlklingenden Namen Mr. Palazot führte, verbeugte sich mit einem Anflug von Ironie und ließ ihn mit seinem Hüter allein. Fontane war jetzt Gefangener.
Nachdem er Uhr und Geld und kleines Perlmuttermesser, das gerade ausgereicht haben würde, einen Maikäfer zu ermorden, bei ihm deponiert hatte, stellte Monsieur Palazot die üblichen Fragen und machte sich Notizen. Dann wurde Fontane zu Tisch gebeten und entkam der immer lebhafter werdenden Debatte gegen neun Uhr, als ihn eine völlige Erschöpfung überfiel und er bat, in sein Zimmer geführt zu werden. Er glaubte, wirklich Zimmer gesagt zu haben. Tatsächlich trug es die Inschrift »chaot« – Gefängnis. Als ihm der übliche Gefängnisapparat – der Schemel, der Wasserkrug, das eiserne Bett – gewahr wurde, musste er lächeln und sprach vor sich hin: alles echt. Das Ganze hatte zudem nichts Abschreckendes. Die Wände waren weiß, die Laken sauber, durch das breite Gitterfenster fiel das Mondlicht. Aber der Fakt blieb: Fontanes Exkursion ins Jeanne-d’Arc-Land endete in einer Zelle. Er war, wie Fontanes Freund Hermann Freiherr von Wangenheim schrieb, »aus dem romantischen Land, das er durchwanderte, in die Wirklichkeit« gefallen.[2]
An Schlaf war nicht zu denken. In der Nacht jagte unter dem Fußboden geschwaderartig und mit stampfendem Gepolter die Kavallerie. Jeden Augenblick musste Fontane fürchten, dass sie sein Bett mit Sturm nehmen würden. Es waren Ratten. Nie habe er diese Tiere mit solcher Frechheit sich gebärden sehen; sie waren überall, zupften und zerrten an den Decken. Und ließen sich durch sein Husten und Zurufen nicht im geringsten stören. Fontane flüchtete auf das breite Fensterbrett. Aber das höllische Getier ließ nicht von ihm ab. Die Ratten drängten sich an den Schemel, den Fontane als eine Art Treppenstufe vor das Fenster geschoben hatte, und versuchten, diesen zu erklettern. Schließlich gaben sie auf. Um vier Uhr wurde es still, um fünf dämmerte es und um sieben erschien Mr. Palazot, der für Fontanes Schlaflosigkeit lediglich ein müdes Lächeln übrighatte.[3] Im Notizbuch vermerkt Fontane nur kurz und knapp: Furchtbare Nacht.[4]
Furchtbare Nacht: Fontanes nachträgliche Einträge über den Beginn seiner Gefangenschaft Anfang Oktober 1870, Notizbuch D6
Feindlich gesinnte Bevölkerung
Es blieb furchtbar. Obwohl Monsieur Palazot es seinem Gefangenen am Morgen des 6. Oktober ermöglichen wollte, den Schlaf nachzuholen, blieb zum Ausruhen keine Zeit. Gegen neun Uhr, erzählt Fontane in Kriegsgefangen, kamen drei Gendarmen, um ihn nach der Festung Langres, zum Brigadegeneral zu bringen. Der Transport wurde zu einer Tortur. Weil der Bahnhof an der entgegengesetzten Seite der Stadt lag, musste Fontane – eskortiert von den Gendarmen – also die Hauptstraße der ganzen Länge nach passieren. Nachdem sich schon am Abend vorher die Nachricht seiner Verhaftung in allen Schichten der Bevölkerung verbreitet hatte, lief der Gefangene durch ein Spalier von Schaulustigen: Es war eine Art Volksfest. In Langres, wo er vier Stunden später eintraf, entwickelte sich der Marsch zum Gefängnis – das sich zu Fontanes Leidwesen auch hier am äußersten Stadtrand befand – zu einem Spießrutenlauf durch eine feindlich gesinnte Bevölkerung. Ein Phänomen, das Fontane in den nächsten Wochen auch an allen anderen Orten begleitete und das von anderen Kriegsgefangenen bestätigt wird. Adolf Genzel, ein Sergeant aus Halberstadt, berichtet in seinen Erinnerungen von der »außer Rand und Band geratenen« Bevölkerung, die in den Städten »johlend und schreiend, schimpfend und fluchend« die Gefangenentransporte vom Bahnhof zum Gefängnis begleitete. »Frauenzimmer kamen dicht an uns heran, spuckten nach uns und hielten mir drohend ihre kleinen Fäuste vor das Gesicht.« Und vor einem Gefängnis in Moulins, wo auch Fontane später Station machen wird, schien »das Geschrei und das Verlangen, uns die Köpfe abzuschlagen«, kein Ende zu nehmen.[5]
In Langres war es vor allem die Straßenjugend, die ziemlich arg hinter Fontane her war, namentlich in den engen Gassen. Auch wenn er nicht alles verstand, was sie ihm zuriefen, so hatte er doch gerade Ohr genug, um das immer wiederkehrende »pendre« [hängen] und »fusiller« [erschiessen] sehr deutlich herauszuhören. Fontane, derart bedrängt, hatte große Angst. Er spricht es in Kriegsgefangen nicht aus, sondern vermittelt seine Furcht metaphorisch, indem er sich eines alten Liedes bedient. Als er in Neufchâteau von Haus zu Haus an den Gruppen Neugieriger vorüber musste, ging ihm die Figur der »Mary Hamilton« durch den Sinn. Die altschottische Ballade »The Queen’s Mary« hatte Fontane in Walter Scotts Textsammlung »The Minstrelsy of the Scottish Border« gelesen. Sie handelt von einer Hofdame am schottischen Hof, die vom König geschwängert wird. Weil Mary das Kind getötet hat, wird sie selbst zum Tode verurteilt. Fontane zitiert die Strophe, in der sie unter Beobachtung der vor ihren Häusern stehenden Männern und Frauen die Straß’ entlang schreitet. Und ergänzt: Mary Hamilton schritt auf einen Hügel zu, um dort zu sterben. Wohin schritt ich?[6]
Ein paar Tage später wird er seine Angst vor der französischen Bevölkerung relativieren. Aber nicht in Kriegsgefangen, sondern in einem Brief an seine Frau. Die Menschen seien sehr aufgebracht gegen uns, und wenn man durch die Städte und Dörfer kommt, spürt man irgendwie eine Gefahr. Doch Fontane war – und das schreibt er nicht nur zur Beruhigung an Emilie – der Bevölkerung nicht schutzlos ausgeliefert. Nehmen die Obrigkeiten die Dinge in ihre Hand, sei alles in Ordnung. Die Erregung legt sich, und die Gerechtigkeit waltet.[7] Auch Adolf Genzel hebt »die Nothwendigkeit unserer Bedeckung« durch die begleitenden Gendarmen hervor, die es schwer genug hatten, die Gefangenen »vor der rasenden Bevölkerung« und ihren »thätlichen Angriffen« zu schützen.[8]
Hoffnung in Langres
Fontane wurde in Langres in ein Verhörslokal gebracht, in dem die Militärgerichtsbarkeit der Brigade ihren Sitz hatte. Bevor zwei Capitaines die Befragung vornahmen, legte der Gendarmeriewachtmeister Fontanes Papiere, darunter auch die Legitimationskarten, Briefe und Notizbücher, die man ihm in Domrémy abgenommen hatte, auf den Tisch. Fontane, der aufgrund von Schlaflosigkeit