Maigret und Pietr der Lette. Georges Simenon
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Alter ca. 32 , Größe 1 m 69 … Nase gerade …
Maigret bewegte sich immer noch nicht. Sein Blick richtete sich auf das Ohr. Das genügte ihm.
Der Mann in Grün ging ganz dicht an ihm vorbei. Einer der Träger stieß mit einem Koffer gegen den Kommissar.
Im selben Moment begann ein Eisenbahner zu laufen und rief einem Kollegen etwas zu, der am Ende des Bahnsteigs neben der Kette stand, mit der man den Durchgang sperren konnte.
Die Kette wurde eingehängt. Lauter Protest erhob sich.
Der Mann im Reisemantel war schon am Ausgang.
Der Kommissar rauchte in kleinen, schnellen Zügen. Er ging zu dem Beamten, der die Kette eingehängt hatte.
»Polizei! Was ist los?«
»Ein Verbrechen … Gerade haben wir entdeckt …«
»Wagen 5?«
»Ich glaube, ja …«
Im Bahnhof ging es zu wie immer. Nur an Gleis 11 bot sich ein ungewohnter Anblick. Etwa fünfzig Reisenden wurde der Durchgang verwehrt. Sie verloren die Geduld.
»Lassen Sie sie durch«, sagte Maigret.
»Aber …«
»Lassen Sie sie durch!«
Er beobachtete, wie dieser letzte Strom sich in Bewegung setzte. Der Lautsprecher kündigte die Abfahrt eines Vorortzuges an. Irgendwo rannten Leute. Vor einem der Wagen des Étoile du Nord wartete eine kleine Gruppe auf irgendetwas. Drei Männer in der Uniform der Eisenbahngesellschaft.
Zuerst kam der Bahnhofsvorsteher herbeigelaufen, wichtigtuerisch, aber beunruhigt. Dann wurde eine Rollbahre durch die Halle geschoben, quer durch die Wartenden, die ihr mit unbehaglichen Blicken folgten. Vor allem die Abreisenden.
Maigret ging den Zug entlang, mit schweren Schritten, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, von Wagen zu Wagen. Wagen 1. Wagen 2 … Er erreichte Wagen 5.
Dort standen die drei Eisenbahner vor der Tür. Die Bahre hielt an. Die Männer redeten auf den Bahnhofsvorsteher ein.
»Polizei! Wo ist er?«
Man sah ihm sichtlich erleichtert entgegen. Er schob seinen massigen Körper gelassen in die aufgeregte Gruppe, und mit einem Mal waren die anderen nur noch Nebenfiguren.
»In der Toilette …«
Maigret stieg ein und sah die offene Toilettentür zu seiner Rechten.
Auf dem Boden lag ein Körper, zusammengekrümmt, seltsam verdreht.
Draußen auf dem Bahnsteig gab der Zugführer Anweisungen:
»Der Wagen wird auf ein Abstellgleis gefahren … Wartet! … Gleis 62 … Und sagt der Aufsicht Bescheid!«
Zuerst sah er nur den Nacken des Mannes, dann, als er die schief sitzende Mütze zurückschob, auch das linke Ohr.
»Äußerer Ohrmuschelrand auffällig geformt, Ohrläppchen groß, anliegend, Gegenleiste schmal …«, murmelte er.
Auf dem Linoleum waren ein paar Blutspritzer. Er sah sich um. Die Eisenbahner standen auf dem Bahnsteig und auf dem Trittbrett. Der Vorsteher redete und redete.
Da drehte Maigret den Kopf des Mannes um und biss noch fester auf seine Pfeife.
Wenn er nicht den Reisenden im grünen Mantel am Ausgang gesehen hätte, wenn er nicht gesehen hätte, wie er zusammen mit einem Dolmetscher vom Hôtel Majestic zu einem Wagen ging, wären ihm vielleicht Zweifel gekommen.
Dieselben Kennzeichen. Derselbe kleine blonde, bürstenartige Schnurrbart unter einer geraden Nase mit breiter Basis. Dieselben hellen, dünnen Augenbrauen. Dieselben graugrünen Pupillen.
Mit anderen Worten: Pietr der Lette!
Maigret konnte sich in der winzigen Toilette nicht bewegen. Der Wasserhahn tropfte; jemand hatte vergessen, ihn zuzudrehen, und aus einer porösen Dichtung dampfte es.
Seine Beine stießen gegen den Leichnam. Er richtete ihn halb auf und sah auf der Brust, auf Hemd und Jacke Schmauchspuren eines aus nächster Nähe abgegebenen Schusses.
Ein großer schwärzlicher Fleck, in den sich das Purpurrot des Blutes mischte.
Ein Detail fiel dem Kommissar auf. Zufällig sah er einen der beiden Füße, verrenkt und verdreht wie der ganze Körper, den man zusammengedrückt haben musste, um die Tür zu schließen.
Der Schuh war schwarz, sehr gewöhnlich und billig und offenbar schon einmal neu besohlt worden. Der Absatz war an der einen Seite abgelaufen, und in der Mitte der Sohle sah man ein durch Abnutzung entstandenes rundes Loch.
Der Mann von der Bahnhofsaufsicht erschien, in betresster Uniform, selbstsicher, und fragte auf dem Bahnsteig:
»Was ist jetzt schon wieder? Ein Verbrechen? Selbstmord? Fasst ja nichts an, bis die Staatsanwaltschaft da ist! … Achtung! … Ich habe hier die Verantwortung, ich!«
Maigret hatte Mühe, aus der Toilette hinauszugelangen, wo er zwischen den Beinen des Toten feststeckte. Mit einer raschen, geübten Bewegung befühlte er noch die Taschen und vergewisserte sich, dass sie leer waren, vollkommen leer.
Er stieg aus dem Wagen, mit erloschener Pfeife, schief sitzendem Hut und einem Blutfleck auf der Manschette.
»Sieh da, Maigret! Was halten Sie davon?«
»Nichts! Sehen Sie selbst …«
»Ein Suizid, nicht?«
»Wenn Sie meinen … Haben Sie die Staatsanwaltschaft angerufen?«
»Gleich als ich davon erfuhr.«
Eine Stimme krächzte aus dem Lautsprecher. Ein paar Leute, die gemerkt hatten, dass etwas Außergewöhnliches passiert war, betrachteten von fern den leeren Zug, die Männer, die vor dem fünften Wagen verharrten.
Maigret ließ sie alle stehen, verließ den Bahnhof und winkte ein Taxi herbei.
»Zum Majestic!«
Der Sturm verdoppelte seine Wucht. Windböen fegten durch die Straßen und ließen die Passanten taumeln wie Betrunkene. Von irgendwoher stürzte ein Dachziegel auf den Gehsteig. Die Busse stauten sich.
Die Champs-Élysées hatten sich in eine fast menschenleere Fahrbahn verwandelt. Es begann zu regnen. Der Portier des Majestic stürzte mit seinem riesigen roten Schirm zum Taxi.
»Polizei! Ist eben ein Reisender vom Étoile du Nord hier eingetroffen?«
Schlagartig schloss der Portier seinen