Agrarwende jetzt! (Telepolis). Susanne Aigner
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Nun wird diese begrüßenswerte Maßnahme durch die Zulassung neuer gefährlicher Substanzen wieder zunichte gemacht und das EU-weite Freilandverbot für die bienengefahrlichen Neonikotinoide wieder aufgeweicht. Konkret handelt es sich um die Wirkstoffe Sulfoxaflor, Cyantraniliprol und Flupyradifuron. Die drei neuen Insektengifte haben eine ähnlich verheerende Wirkung für Bienen, Hummeln und Schmetterlinge und andere Insektenarten.
So können sie sich in Pflanzen, Boden und Wasser anreichern und dort schwerwiegende Schäden anrichten. Der Wirkmechanismus von Flupyradifuron und Sulfoxaflor ist sogar identisch: Schon in geringen Mengen sind sie tödlich für Bienen und andere Insekten. Dem Umweltinstitut München zufolge wurde ein weiteres cyantraniliprolhaltiges Insektizid mit dem Einverständnis des Umweltbundesamts für den Einsatz auf Zierpflanzen in Gewächshäusern genehmigt.
Bereits im März 2018 forderten die Grünen des Brandenburger Landtages ein Einfuhrverbot von Rapssaatgut, das mit dem in Deutschland verbotenen Insektizid Cyantraniliprol behandelt wurde. Bei Ausbringung auf die Felder seien nicht nur erhebliche Verluste bei Bienen und Insekten zu befürchten, sondern auch Pestizid-Rückstände im Honig.
Imker wie Benedikt Polaczek warnen schon lange vor der Gefährlichkeit von Neonikotinoiden für Bienen. Der Agrarwissenschaftler, der seit mehr als 50 Jahren mit Bienen arbeitet, beobachtet, dass die Bienenvölker immer neue Krankheiten bekommen. Die Gifte beeinträchtigen nicht nur das Lernvermögen und die Orientierungsfähigkeit von Wild- und Honigbienen, sie lähmen und töten sie auch.
Immer neue Ackergifte auf den Markt
In welchen Mengen Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft eingesetzt werden dürfen und wie stark sie Bienen, Käfer, die Artenvielfalt insgesamt gefährden, darüber streiten sich die zuständigen Behörden schon länger.
In einer Petition fordert das Umweltinstitut München das Agrar- und Umweltministerium auf, die Zulassungen der bienengefährlichen Ackergifte zurückzunehmen. Eine entsprechende Petition der Bürgerbewegung Campact wurde von rund 390.000 Menschen unterzeichnet.
Unbeeindruckt von allen Bürgerprotesten lässt das BVL immer neue Pestizide zu. Ende März erfolgte eine auf 120 Tage begrenzte "Notfall-Zulassung" für ein weiteres insektenschädliches Neonikotinoid namens "Carnadine". Es soll gegen zwei Blattlausarten an Zucker- und Futterrüben helfen. Der Wirkstoff Acetamiprid, der das Nervensystem von bestäubenden Insekten angreift, schädigt besonders die Bienen.
Bevor ein Pflanzenschutzmittel aus dem Verkehr gezogen wird, sind langwierige Bewertungsverfahren erforderlich - das geht aus der Antwort des Deutschen Bundestages auf eine kleine Anfrage der Grünen vom Februar 2019 hervor. So gab es zum 14. Januar 2019 in Deutschland 121 Antragsverfahren für die erneute Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Allein 25 glyphosathaltige Pflanzenschutzmittel warten auf ihre Zulassung bzw. deren Verlängerung.
Artenschwund kennt keine Ländergrenzen
Insekten sind die am häufigsten vorkommende und artenreichste Tiergruppe mit entscheidenden Funktionen. Ohne Insekten brechen die Ökosysteme auf der Erde früher oder später zusammen. Doch die Insektenvielfalt ist extrem bedroht. Ein Drittel aller untersuchten Arten sind akut gefährdet. 40 Prozent aller Insektenarten könnten in den nächsten Jahrzehnten aussterben. Dies ist das Ergebnis einer Studie von Francisco Sánchez-Bayo und Kris Wyckhuys.
Die beiden Wissenschaftler werteten 73 Berichte über das Insektensterben auf der ganzen Welt aus. Gefährdet sind vor allem viele Schmetterlings-, Bienen-, Wespen- und Mistkäferarten sowie an Gewässern lebende Libellen und Fliegenarten. Die Hauptursachen sind der Verlust von Lebensräumen durch intensive Landwirtschaft, Pestizide und Düngemittel, Krankheitserreger, die Ausbreitung invasiver Arten.
Viele Arten gehen zudem infolge des Klimawandels in tropischen Regionen verloren. Wie sich das auf die Nahrungskette auf Dauer auswirkt, ist ungewiss. Von Insekten ernähren sich Wirbeltiere wie Vögel, Mäuse, Igel und Eidechsen. Bereits heute werden aus Mangel an Insekten weniger Vögel geboren: Wanderfalken, Habichte, Bussarde ziehen oft nur noch ein Junges auf statt zwei. Auch die Zahl der Singvögel ging in den letzten Jahren signifikant zurück.
2017 war eine Langzeitstudie deutscher Hobby-Entomologen in aller Munde, die an 63 verschiedenen Standorten Fluginsekten in Netzfallen gesammelt und gezählt hatten. Innerhalb von 27 Jahren war die jährlich gesammelte Insektenmasse um mehr als 75 Prozent geschrumpft. Mehr als drei Viertel aller Fluginsekten waren aus deutschen Schutzgebieten verschwunden.
Eine ähnliche Langzeitstudie veröffentlichten Wissenschaftler der niederländischen Radboud-Universität Nijmegen etwa ein Jahr später. Sie hatten in zwei von Heidelandschaft und Grünland geprägten Naturschutzgebieten über 20 Jahre Insekten in Lichtfallen gesammelt. Bei Nachtfaltern beobachteten sie einen Rückgang von 3,8 und bei Käfern von etwa 5 Prozent. Bei Köcherfliegen, die sie seit zehn Jahren gesammelt hatten, lag der Verlust bereits bei neun Prozent. Bei nahezu 40 Prozent aller gefangenen Arten hatte die Anzahl der Individuen abgenommen.
Größtes Massensterben seit der Perm- und Kreidezeit?
In einer Studie von November 2018 analysierte ein Wissenschaftlerteam um Josef Settele am deutschen Helmholtzinstitut den Artenreichtum von Schmetterlingen. Insgesamt 122 Arten wurden an 245 Standorten innerhalb und außerhalb deutscher Naturschutzgebiete gesammelt. In den Schutzgebieten war die Biodiversität am höchsten, außerhalb davon nahm sie mit zunehmender Entfernung ab. Innerhalb von elf Jahren war der Artenreichtum um zehn Prozent zurückgegangen.
Zwar zeigen die Ergebnisse, welches großes Potenzial Naturschutzgebiete für den Erhalt der Biodiversität haben, doch der negative Trend könne durch sie nicht abgemildert werden, schreiben die Autoren. Um den Artenschwund aufzuhalten, braucht es mehr ökologischen Maßnahmen.
In den letzten drei Jahrzehnten seien jährlich durchschnittlich 2,5 Prozent Insekten verloren gegangen, erklärt Francisco Sánchez-Bayo von der University of Sydney. In zehn Jahren