Kleine Geschichte des Hörspiels. Hans-Jürgen Krug

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Kleine Geschichte des Hörspiels - Hans-Jürgen Krug

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allem ein Tagesbegleitmedium (KRUG 2019: 156) geworden. Das Nebenbeihören hat das bewusste Einschalten einzelner Sendungen weitgehend verdrängt, und auch der Status der seit den Anfängen im Jahr 1924 weitgehend öffentlich-rechtlichen Einschaltkunst ›Hörspiel‹ hat sich verändert. Die einst gefeierte ›Krönung des Funks‹ (KOLB 1932) besitzt nicht mehr die große Liebe des breiten Radiopublikums und auch nicht den kulturellen Stellenwert, den sie in den 1950er-Jahren in Deutschland erlangt hatte. Und es fehlt ihr die theoretische Anerkennung, die sie in den 1960er-Jahren erlangte. Doch das Hörspiel ist noch immer erkennbar im Programm. 2004 etwa wurden an rund 2.200 Sendeterminen noch immer außerordentlich viele Hörspiele gesendet. Die Zahl der Neuproduktionen freilich ist rückläufig: Das ABC der ARD zählte 1999 »rund 750 Neuproduktionen« (ARD 1999: 74), 2002 waren es noch »rund 640« (ARD 2002: 86) – auch 2019 werden in der Internetausgabe des ABCs noch »derzeit rund 640 Neuproduktionen« angegeben. Andere Quellen gehen davon aus, dass in der ARD jährlich »über 500 Hörspiele« (KAPFER 2003: 67) neu produziert werden. »Doch d i e Zahlen«, so berichtete Uwe Kammann 2013 auf dem Festival ›Radio Zukunft. Tage der Audiokunst in Berlin‹, »die gibt es nicht, weil jeder Sender anders zählt und rechnet. Und damit auch jede Hörspielabteilung« (KAMMANN 2013).

      RADIO, KULTURRADIO, HÖRSPIEL

      Das Hörspiel ist die Kunstform des Rundfunks, und sie war nur hier – als Teil eines laufenden Programms – möglich. Heute ist diese Radiokunst aus den populären und hörerreichen Radioprogrammen nahezu vollständig verschwunden. Sie ist fast ausschließlich auf den öffentlich-rechtlichen Kultur-, Klassik- oder Infowellen zu finden: Bayern 2 (Bayerischer Rundfunk), hr2 kultur (Hessischer Rundfunk), MDR Kultur (Mitteldeutscher Rundfunk), NDR Kultur, NDR Info (Norddeutscher Rundfunk), Bremen 2 (Radio Bremen), rbbKultur (Rundfunk Berlin-Brandenburg), SR 2 KulturRadio (Saarländischer Rundfunk), SWR2 (Südwestrundfunk), WDR 3, WDR 5 (Westdeutscher Rundfunk), Deutschlandfunk Kultur (DLFK) und Deutschlandfunk (DLF).

      Die ›gehobenen Wortwellen‹ befinden sich seit den 1990er-Jahren in stetigen Veränderungsprozessen. Sie haben ihre Namen, ihre Programmstrukturen und ihren Sound immer wieder ›optimiert‹; sie haben sich ›Flottenstrategien‹ unterworfen, ihre Tagesprogramme formatiert und so versucht neue Zielgruppen anzusprechen. Nicht selten wurden diese ›Optimierungen‹ von heftigen Auseinandersetzungen begleitet.

      Heute nutzen etwa zwei bis drei Prozent der Radiohörer diese Kulturprogramme, und auch sie nutzen sie inzwischen weitgehend nebenbei. Einschaltangebote wie das Hörspiel gibt es nur noch in den hörerarmen Abend- und Nachtstunden sowie am Wochenende – doch auch diese Programmplätze konnten der Formatierung nicht ganz entgehen. Die Situation des Hörspiels ist in den verschiedenen Sendern zwar unterschiedlich. Insgesamt aber ist die Radiokunst inzwischen zu einer Kunst für vergleichsweise wenig Radiohörer und Liebhaber geworden. Selbst die Medienkritik (KRUG 2002) sowie die Literatur- und Medienwissenschaft haben sich (lässt man die Geschichte der Anfänge einmal außer Acht) vom Hörspiel weitgehend verabschiedet. Das Hörspiel existiert heute fern der breiten Aufmerksamkeiten. Es ist vor allem eine Nischenkunst.

      HÖRSPIEL, HÖRBUCH, PODCAST

      Doch die bundesdeutsche Hörspielszene ist durchaus in Bewegung. Neben den Veränderungen in den linearen Radioprogrammen auf Ultrakurzwelle und DAB+ haben die neuen digitalen Möglichkeiten zur programmunabhängigen Nutzung die Ästhetik und Machart der Hörspiele verändert. Das Hörbuch ermöglichte erstmals den gezielten Kauf der nun mit ISBN ausgestatteten Hörbücher (mit dem Inhalt ›Hörspiel‹) im Buchladen. Das Internet ermöglichte neben dem lokalen UKW-Radiokonsum weltweiten Empfang über Computer, Laptop, Smartphone. Und es ermöglichte technisch einfaches, automatisiertes und oft kostenloses Herunterladen von Hörspielen. 2005 stellte MDR Figaro Friedrich Schillers Kabale und Liebe in einer Neuinszenierung 14 Tage zum kostenlosen Herunterladen ins Netz, es gab rund 30.000 Downloads. Beim WDR riefen 18.000 Personen ein erstes, probeweise ins Netz gestelltes Hörspiel ab – und damit »sehr viel mehr, als normalerweise Hörer über UKW ein solches Angebot nutzen. Die Redaktion freut sich natürlich. Aber jeder Abruf lässt es auch bei uns in Form der Serverkosten klingeln« (PIEL 2007).

      Im Februar 2008 schaltete der Bayerische Rundfunk seinen Hörspiel Pool frei und bot das erste Hörspiel unter einem eigenen Label zum kostenlosen Hören und Downloaden an: Raoul Schrotts Die Erfindung der Poesie (BR, HR, ORF 1997). Die zwölfteilige akustische Anthologie musste nun nicht mehr als 3-CD-Hörbuch für 98 DM bei Eichborn gekauft werden, sie stand jetzt einige Tage kostenlos als Podcast zur Verfügung. »Wir versuchen Hörspiele anzubieten, die auf dem Hörbuchmarkt nie eine Chance hatten oder schon wieder vergriffen sind, die aber für die Hörspielästhetik eine Relevanz hatten«, sagte Hörspiel-Chef Herbert Kapfer 2008 vorsichtig (KAPFER 2008). Bald folgten auch ein Hörspielspeicher (WDR), eine Hörspielbox (NDR) und – zentralisiert – die ARD-Audiothek (2017). Hörspiele sind seither leicht auffindbar. Sie existieren eine gewisse Zeit unabhängig von der Hörfunkausstrahlung weiter. Und zunehmend auch neben dem linearen Hörfunk. ›Podcast first‹ ist gegenwärtig eine Devise der Hörspielmacher.

      Das Hörspiel ist heute also multimedial, radiounabhängig, hoch differenziert und jederzeit zugänglich. Es ist eine sehr offene Form, für die selbst Andreas Ammers pragmatische Definition zu kurz greift: »Ein Hörspiel ist dann ein Hörspiel, wenn es eine Hörspielabteilung bezahlt« (AMMER 2002).

      DIE ABGEBROCHENE HÖRSPIELGESCHICHTE

      Der hier in der dritten Auflage vorgelegte Band versucht zu zeigen, was sich in mehr als neun Jahrzehnten in der Hörspielszene getan hat und wie aus einem flüchtigen Kind des Mittelwellenrundfunks ein vielfältig präsentes Audioprodukt geworden ist. Dennoch ist diese kleine Erzählung keine empirische, die sich an den geschätzt weit mehr als 100.000 Hörspieltiteln (BUGGERT 2004) und ihren akustischen Realisationen orientieren kann. Eine solche Programmgeschichte ist auch heute nicht einmal in Ansätzen möglich. Die Hörspiele lagern (noch immer schwer zugänglich) in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Sender, manches wurde zwischenzeitlich unwiderruflich gelöscht. Die Konjunkturen der verschiedenen Hörspielstile und ihre offenen und verdeckten Fortwirkungen in den Hörspielprogrammen sind weitgehend unbekannt. Die Bedeutung der Regisseure, Komponisten (KRUG 2019a) und vor allem Schauspieler beziehungsweise Sprecher ist kaum erforscht. Zwischen Medienpraxis und Medienforschung, zwischen Hörspielrealität und Hörspielgeschichte klaffen Welten.

      Diese kleine Hörspielgeschichte orientiert sich deshalb vor allem an den ›Höhenkämmen‹ des so umfangreichen Hörspielangebots und an den weichenstellenden Hörspieldebatten. Dabei sind die hier vorgeschlagenen Periodisierungen (1929/ 1933/ 1945/ 1968/ 1985/ 1999/ 2007/ 2017) nicht als harte Schnitte zu verstehen, vieles läuft auch in der Hörspielgeschichte ungleichzeitig nebeneinander weiter. Vielfalt war immer das erklärte Ziel der Hörspielmacher, und je näher man der Gegenwart kommt, desto deutlicher wird die Gegenwartsvergessenheit der Programmentwicklungen: Immer mehr Altes steht neben Neuem. Die digitalisierte Hörspielkultur steht nicht im Zeichen knapper Inhalte, sondern höchstens knapper Aufmerksamkeiten. Dieses Buch verbindet deshalb Geschichte und Aktualität, Wissenschaft und Kritik, Analyse und Beschreibung – und versteht sich auch als Anregung zum hörspielnahen Weiterforschen.

      HÖRSPIELFORSCHUNG IST AUDIOFORSCHUNG

      Das Hörspiel – und darauf hat jede moderne medienwissenschaftliche Geschichtsschreibung zu insistieren – ist vor allem eine akustische Gattung, eine Gattung zum Hören. Die Zeiten, in denen Autoren wie Günter Eich eher durch ihre in Büchern gedruckten Texte als durch die gesendeten Hörspiele ihren Ruhm errangen, in denen Hörspiele gelesen, nicht aber unbedingt gehört wurden, sind wohl unwiderruflich vorbei. Nicht nur, weil es heute kaum noch neue Hörspielbücher gibt, ist die Lektüre schwierig geworden. Das Verhältnis von Manuskript und Realisation hat sich vollständig verändert. Deutlich wird das

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