Kleine Geschichte des Hörspiels. Hans-Jürgen Krug
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DIE DIFFERENZ VON TEXT UND REALISATION
Aus einem ›Entwurf‹ aber lassen sich sehr unterschiedliche Hörprodukte herstellen. Text und Realisation sind durchaus zweierlei, wie sich am Beispiel des viel gesendeten Günter Eich leicht illustrieren lässt (KRUG 2002: 31ff.). Die Andere und ich etwa wurde 1952 (NWDR), 1952 (SDR), 1962 (HR) sowie 1993 (MDR) produziert. Von dem legendären Meisterwerk Träume gibt es sechs ganz unterschiedliche Realisationen (1951 [NWDR], 1951 [HR], 1964 [BR], 1964 [ORF], 1981 [Rundfunk der DDR] und 2006 [NDR]), auch wenn Fritz Schröder-Jahns ursprünglich heftig diskutierte NWDR-Realisation dauerhaft alle anderen aus dem Hörspielrepertoire verdrängte. Von Geh nicht nach El Kuwehd! (1950), Eichs meistinszeniertem Hörspiel, existieren sogar elf Realisationen – und die profiliertesten Regisseure (Egon Monk, Gustav Burmester, Walter Adler) haben das Radiomärchen inszeniert und jeweils unterschiedlich interpretiert. Hörspiele sind also akustische Kunstprodukte, an denen neben dem Autor auch Dramaturgen, Schauspieler (Sprecher), Komponisten, Musiker, Tontechniker und vor allem Regisseure prägend beteiligt sind. Und die – auch dies kann nicht deutlich genug formuliert werden – von technologischen Entwicklungen und technischen Möglichkeiten beeinflusst und auch geprägt werden. Die Ultrakurzwelle etwa ermöglichte ganz andere Hörspielästhetiken als die Mittelwelle, Stereo andere als Mono (KRUG 2013). Auch Eichs letztes Hörspiel Zeit und Kartoffeln (SWF, HR, NDR 1972) wurde 2006 noch einmal realisiert.
HINTERLÄNDER ERFAHRUNGEN
Aus identischen Texten, diese Erfahrung machten schon die ersten Hörspielmacher und -hörer, lassen sich sehr unterschiedliche Hörprodukte herstellen. Und auch der Verfasser dieser Zeilen konnte sie in den 1960er-Jahren machen, als ein junger Gymnasiallehrer uns ›Hinterland‹-Kindern und Schülern der Lahntalschule in Biedenkopf Fred von Hoerschelmanns Klassiker Das Schiff Esperanza als Unterrichtsstoff vorlegte. Zunächst lasen wir den Text mit verteilten Rollen im Unterricht, dann sprachen wir ihn nachmittags und freiwillig auf eines dieser noch so seltenen Tonbandgeräte. Wir pilgerten regelmäßig in die Biedenkopfer Oberstadt, sprachen Kapitel auf Kapitel ins Mikrofon, knallten Türen, schlugen Löffel auf Töpfe, schufen Wellen in Schüsseln – und versuchten uns so auch als Geräuschemacher. Einer war der Tontechniker und durfte die Tonbandknöpfe drücken, manchmal gab es heftige Debatten zwischen den Sprechern – doch der Lehrer-Regisseur hatte alles bestens im Griff. Noch immer vermitteln die wundersam erhaltenen Aufnahmen die jugendliche Macher- und Entdeckerfreude, die besondere Verbindung von oberhessischem, ›plattem‹ Sprachduktus, schülerhaftem Elan und einem von sehr fern kommenden Hörspieltext. Dann machten wir um Herrn von Hoerschelmann wieder einen weiten Bogen – und wandten uns etwa Teens-Twens-Top-Time zu, einer 1966 vom Hessischen Rundfunk ins Programm genommenen Musiksendung für Schüler und Jugendliche. Täglich nach der Schule (14.00 Uhr) und um 18.30 Uhr kam fortan eher ambitionierte und manchmal ellenlange Rockmusik aus dem selbsterarbeiteten Stereoempfänger von Grundig und wurde mit einem Philips-Tonbandgerät 4307 aufgezeichnet. Die Sendung war noch ein Angebot für Minderheiten. Zwanzig Jahre später ging ich dann mit dem eigenen tragbaren Tonbandgerät zum Phil-Turm in Hamburg. Raum 1350. Es war Sommer. Am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg gab es noch keine Abhörmöglichkeiten – und so musste ich für mein Seminar ›Arbeitslosendrama und Arbeitslosenhörspiel‹ (SoSe 1988) auf meine eigene Technik zurückgreifen. Und auf eigenes Material, wie auf private Kassettenmitschnitte weniger Arbeitslosenhörspiele etwa und auf freundliche Kassettengaben einzelner Hörspielabteilungen. Die Hörqualität war – an heutigen Standards gemessen – miserabel, aber deutlich mehr als nur ein Manuskript. Wiederum rund 15 Jahre später, es gab inzwischen den Studiengang ›Medienkultur‹, fand das Seminar ›Geschichte, Theorie und Praxis des Hörspiels‹ (SoSe 2004) dann schon im Medienzentrum statt. Jetzt waren auch vorzügliche Abhörgelegenheiten vorhanden. Und für die folgenden Praxisseminare gab es auch ein Studio, in dem aufgenommen, geschnitten und angelegt werden konnte und Kooperationsmöglichkeiten mit dem Lokalradio Tide 96 (KRUG 2006). Die Literatur- bzw. Medienwissenschaften fanden erst langsam zum Akustischen.
ZUR AKTUALISIERTEN NEUAUFLAGE
Der rapide Wandel der Medienlandschaften hat auch für die Hörspielgeschichtsschreibung Folgen und lässt ihre Gegenwart schrumpfen. Die Kleine Geschichte des Hörspiels versuchte in der Erstausgabe 2003 und dann in der erweiterten Neuauflage (2008) auch die aktuellsten Entwicklungen einzubeziehen. Inzwischen haben die meisten Kulturwellen ihre Namen geändert, die Leitung der meisten Redaktionen wurde in neue Hände gegeben, die Programmphilosophie der Kulturwellen wurde verändert, und das damals neueste Medium ›Audio Book‹ wurde inzwischen durch Podcast-Angebote ergänzt und mehr als nur punktuell auch ersetzt. Wo einst Mittelwelle-only galt, positionierten sich UKW first, Audiobook first, Online first oder – zuletzt – Podcast first. Gründe genug also, das Buch nochmals zu überarbeiten und zu aktualisieren. Doch dies ist nur die eine Seite. Die Gewissheiten des modernen Formatradios – und mit ihnen des Hörspiels – sind brüchig geworden und müssen sich heute in einer wenigstens dreisäuligen digitalen Welt (Audio, Fernsehen, Online) behaupten. Die Konzepte müssen aktualisiert werden. Wieder stehen Hörfunk und Hörspiel in einer Umbruchsituation, so wie damals in den 1960er-Jahren, als das elektronische Monopolmedium ›Hörfunk‹ vom Fernsehen als Leitmedium abgelöst wurde, so wie Mitte der 1980er-Jahre, als das duale System mit seinen Privatradios grundlegende Neuorientierungen auch im Hörspiel erzwang, so wie um die Jahrtausendwende, als die weltweite digitale Ausstrahlung den Hörspielen neue Dauer verlieh. Bisher haben die jeweils neuen Medien das alte Hörspiel nicht verdrängt. Sie haben es aber immer wieder zu Veränderungen und Neudefinitionen gezwungen, so wie es einst Wolfgang Riepl allgemeiner in seinem Rieplschen Gesetz formuliert hatte. Verglichen mit den frühen analogen und flüchtigen ›Blütezeiten‹ leben wir heute – quantitativ – in einer gigantischen digitalen Hörspielblütezeit, in der selbst opulente Adaptionen der Hochkultur fast jederzeit als CD, Podcast oder im Streaming zugänglich sind. Die Ästhetik des Widerstands etwa, Der Zauberberg, Der Mann ohne Eigenschaften oder aktueller Homo Faber und sogar Unendliches Spiel, unendlicher Spaß. Das flüchtige Medium ist fest geworden.
Die Bedeutung des Auditiven, Oralen, Kommunikativen scheint in der digitalen Welt erneut zu steigen, eine ›neue Kultur der Oralität‹ wieder in Aussicht. »Heute formiert sich erneut eine orale Kultur – nun aber nicht mehr in tribalem, sondern in globalem Maßstab. […] Das ist die Welt der elektronischen Netzwerke« (BOLZ 2007: 43). Die neue Kultur des Hörens ist nicht aufs Radio beschränkt, der Hörfunk verliert sein Alleinstellungsmerkmal und das Auditive erscheint an ganz neuen medialen Orten. Nicht nur Kinosäle bieten einen exzellenten Sound, längst bedient sich der Horrorfilm gerade des Auditiven, wenn er Schrecken erzeugen will. Einst für die ordnende Weltdarstellung zuständige Zeitungen präsentieren nun auch (oft maschinell erzeugte) gesprochene Versionen des Gedruckten, Autoradios können nicht nur Radioprogramme empfangen, und fern der Radiobegleitprogramme gibt es inzwischen zahlreiche ambitionierte Podcasts oder MP3-Angebote – durchaus allerdings auch unterhalb der UKW-Klangqualität. Auch die privilegierte Verbindung von Radio und Hörspiel scheint nicht mehr selbstverständlich. Aber hier befinden wir uns noch immer in den Anfängen der Entwicklung.
HÖRSPIEL HÖREN
Auf die Ausweitung der Kleinen Geschichte des Hörspiels zur ›großen‹ Geschichte des Hörspiels wurde bewusst verzichtet, die Anmerkungen und Literaturverweise blieben auf ein Minimum reduziert. Hörspiele müssen gehört werden (KRUG 2004). Dieses