Niedergetrampelt von Einhörnern. Maelle Gavet
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Ich werde nie vergessen, wie zwei meiner bei Uber arbeitenden Freunde reagierten, als ich beim Abendessen ihre Meinung wissen wollte über diese Selbstmorde und die Arbeitsbedingungen der Uber-Fahrer, die allmählich öffentlich bekannt wurden: »Das ist sehr traurig, aber das ist der Preis für den Fortschritt. Das Taxigewerbe braucht eine Disruption und wir zwingen die Leute ja nicht, für uns zu fahren.« Leider musste ich im Laufe der Jahre so viele Variationen dieser Worte hören, als Flucht vor jeder Verantwortung und Rechtfertigung von Schmerz im Namen des technologischen Fortschritts. Ich habe das so oft und von Mitarbeitern so vieler verschiedener Tech-Firmen gehört, dass ich mich nicht mehr an alle erinnern kann.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die Gig-Economy zig Millionen neue Arbeitsmöglichkeiten, zusätzliche Einnahmequellen und dringend benötigte Flexibilität geschaffen hat. In Entwicklungsländern kann das auch vorteilhaft sein, wie zum Beispiel in Indien. Laut der Zeitschrift Foreign Policy führte sie zu »gestiegenen Einkommen, mehr Arbeitsplätzen, weniger Korruption und schließlich einer Formalisierung auf dem Arbeitsmarkt«.4
Unzweifelhaft ist aber auch, dass Arbeitsverhältnisse in der Gig-Economy im Allgemeinen kurzfristig, unsicher, belastend, schlecht bezahlt und prekär sind, mit nur wenigen Arbeitnehmerrechten oder Arbeitsschutzmaßnahmen. De facto sind die Mitarbeiter auf sich alleine gestellt durch das Modell der geringfügigen/freiberuflichen Beschäftigung – das sich als »flexibel« und arbeitnehmerfreundlich darstellt. Favorisiert wird dieses Modell unter anderem von Unternehmen wie Uber, Lyft, Instacart, Deliveroo, Postmates und TaskRabbit. Die Kosten für Altersvorsorge, Krankengeld, Elternzeit und Krankenversicherung werden beim Staat abgeladen, zumindest dort, wo es noch ein vom Steuerzahler finanziertes soziales Netz gibt. Und obwohl diese »neue Normalität« zunehmend auf Proteste von Arbeitnehmern stößt5 – und von Aufsichtsbehörden, politischen Entscheidungsträgern und in Gerichtssälen auf der ganzen Welt kontrolliert wird: Die Gig-Economy ist, in der einen oder anderen Form, gekommen, um zu bleiben.
Im Ergebnis haben die Tech-Giganten das Äquivalent zum Feudalismus im digitalen Zeitalter geschaffen. Ein hierarchisches Sozialsystem im mittelalterlichen Europa mit Lehnsherren, Vasallen und Leibeigenen. Dieses Mal beruht der Reichtum jedoch auf Daten und nicht auf Land. Im Valley entsprechen Adel und Klerus (Gründer und Risikokapitalgeber) den Herren und Eigentümern aller von ihnen überwachten Daten, sie umgeben sich in der Regel nur mit den königlichen Ministern und mächtigen Kaufleuten (Führungsteam und Spitzenkräfte aus Produktentwicklung und Technik). Die Vasallen (Angestellte, die nicht im technischen Bereich tätig sind) werden als wichtig, aber nicht als kritisch und irgendwie ersetzbar angesehen. Am unteren Ende der Pyramide befinden sich die Leibeigenen und Bauern, die in dieser Analogie, anstatt das Land zu bearbeiten, für Uber oder Lyft fahren, oder für Amazon packen oder Mahlzeiten für Deliveroo oder DoorDash ausliefern, oder noch schlimmer, für Hungerlöhne in Ausbeutungsbetrieben arbeiten (siehe Abbildung 4.1).
Es gibt Führungskräfte in diesen Firmen, die damit prahlen, »genau zu wissen, wie es ist«, für eine Mitfahrer-App zu fahren, da sie dies vor einiger Zeit einen Tag lang gemacht haben. Meiner Meinung nach haben sie nicht die geringste Ahnung davon, was es wirklich bedeutet, jeden einzelnen Tag genug Arbeit zu brauchen, um die Familie ernähren oder das Benzin für die nächste Woche bezahlen zu können. Die Ausbreitung von COVID-19 verschärfte die Lage noch. Viele Beschäftigte in der Gig-Economy können es sich einfach nicht leisten, ihre Arbeit einzustellen. Sie sind weder durch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall noch durch andere Sozialleistungen abgesichert. (Es sei darauf hingewiesen, dass, während ich dies schreibe, Amazon, Instacart, DoorDash, Uber und Lyft ihren Gig-Arbeitern für bis zu maximal zwei Wochen Krankengeld angeboten haben, wenn sie nachweisen können, dass sie entweder an COVID-19 erkrankt oder unter Quarantäne gestellt waren.)
Abb. 4.1: Mittelalterlicher Feudalismus vs. Einhorn-Feudalismus
Diese neue Ära der unerbittlichen Unsicherheit und Unbeständigkeit betrifft Dutzende Millionen Menschen auf der ganzen Welt, die in diesem neuen Feudalismus feststecken. Für sie wird es immer schwieriger, nicht nur eine Familie zu gründen oder ein Haus zu kaufen, sondern einfach über die Runden zu kommen. Beunruhigende Geschichten über das Leben von Lebensmittel-Lieferanten, Nachtkuriere oder Lagerarbeiter und Arbeiter in Logistikunternehmen sind im Überfluss vorhanden. Am schlimmsten ist die Situation für einfache Arbeiter, falls eine Steigerung überhaupt möglich ist. Im Jahr 2019 kam die von Vox Media betriebene technische Website The Verge in den Besitz von Dokumenten, aus denen hervorgeht, dass Amazon in den Logistikzentren ein System zur Überwachung der Produktivität und Qualität der Mitarbeiter einsetzt, »das automatisch Abmahnungen generiert, wenn Ziele nicht erreicht werden«.6
Noch beunruhigender ist, dass das System sogar Arbeitsunterbrechungen (»time off task«, bekannt auch unter der im Deutschen zynisch klingenden Abkürzung TOT) aufzeichnet. Auch hier werden automatisch Abmahnungen und sogar Kündigungen generiert, wenn Mitarbeiter zwischen dem Scannen einzelner Pakete offensichtlich zu viel Zeit benötigen. Beschäftigte vermeiden deshalb mittlerweile Toilettenpausen, so die Webseite. Ebenfalls dort veröffentlicht wurde die Stellungnahme eines Amazon-Anwalts. Er räumte ein, dass zwischen August 2017 und September 2018 in einem einzigen Betrieb »Hunderte« Beschäftigte von Amazon entlassen wurden, weil sie die Produktivitätsziele nicht erreicht hatten.7
Das ist noch nicht alles. Eine detaillierte Recherche des Medienunternehmens BuzzFeed mit dem Titel »The Cost of Next-day Delivery«8 (Kosten der Zustellung am nächsten Tag) zeichnet ein erdrückendes Bild über den Druck, der auf die für Subunternehmen arbeitenden Paketzusteller von Amazon ausgeübt wird. Häufig wird von ihnen erwartet, dass sie »auf Anweisung von Disponenten pro Schicht Hunderte von Paketen zu einem Pauschalpreis von rund $160 pro Tag ausliefern. Oftmals werden sie dazu gezwungen, auf Mahlzeiten, Toilettenpausen und jede andere Form von Ruhepausen zu verzichten. Sie werden davon abgehalten nach Hause zu gehen, bis das allerletzte Paket ausgeliefert ist.« Buzzfeed fand heraus, dass die Fahrer oft mehr als 250 Pakete pro Tag zustellen müssen, was bei einer Acht-Stunden-Schicht weniger als zwei Minuten pro Paket ausmacht. »Amazon geht noch weiter als die Gig-Economy-Firmen, die darauf pochen, ihre Fahrer seien freie Mitarbeiter und hätten keine Rechte als Arbeitnehmer«, hieß es in dem Beitrag. »Indem Amazon jedoch Verträge mit Drittfirmen abschließt, bei denen die Fahrer beschäftigt sind, hat das Unternehmen endgültig die Verbindung zu den Zustellern seiner Pakete gekappt.«
Dadurch entfällt für Amazon jegliche gesetzliche Haftung bei Unfällen. Als beispielsweise ein Fahrer in Chicago kurz vor Weihnachten 2016 eine 84-jährige Frau angefahren und getötet hat, sagten die Anwälte von Amazon in der Gerichtsverhandlung: »Die etwaigen Schäden wurden ganz oder teilweise von Dritten verursacht, die nicht unter der Leitung oder Kontrolle von Amazon.com standen.«9
In dem Bericht heißt es weiter, dass »laut öffentlichen Unfallberichten der letzten fünf Jahre Amazon-Zusteller in Hunderte von Unfällen verwickelt waren. Amazon selbst wurde in mindestens 100