Niedergetrampelt von Einhörnern. Maelle Gavet
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»Sie machen viel mehr Umsatz mit viel weniger Leuten«
Es ist ja keineswegs so, dass sich die Big-Tech-Konzerne bessere Konditionen und eine höhere soziale Absicherung für ihre Mitarbeiter nicht leisten könnten. Google, Facebook, Apple und Microsoft sind hochprofitabel und verfügen über Kassenbestände in Milliardenhöhe. (Amazon ist profitabel, weist jedoch aufgrund von Re-Investitionen in das Unternehmen niedrigere Margen auf.) Ein Grund für den enormen Erfolg der Tech-Giganten sind die schlanken Gehaltslisten – im Gegensatz zu den traditionellen Riesen der Industrie- und Finanzdienstleistungsbranche, die Hunderttausende von Mitarbeitern beschäftigen. Walmart, der weltgrößte Einzelhandelsarbeitgeber im privaten Sektor, hatte im Jahr 2018 etwa 2,2 Millionen sogenannte »Beteiligte« (Walmart-Bezeichnung für Mitarbeiter) auf der Lohn- und Gehaltsliste.10 Im Gegensatz dazu beschäftigte Amazon in jenem Jahr 650 000 Mitarbeiter.11 Die neuen Informationsgiganten, die als Motor des Wirtschaftswachstums angepriesen werden, brauchen weitaus weniger Menschen. Facebook beispielsweise hatte im März 202012 48 268 Vollzeitbeschäftigte, Alphabet, die Muttergesellschaft von Google, beschäftigte im April 201913 103 549 Mitarbeiter – ein Wachstumsschub, der weitgehend auf die Diversifizierung des Werberiesen in Cloud Computing, Hardware, KI und autonome Autos zurückzuführen ist. Als Facebook im Jahr 2014 WhatsApp für 19 Milliarden Dollar erwarb, beschäftigte der Messenger Berichten zufolge nur 55 Mitarbeiter, einschließlich der Gründer.14 »Die Menschen glauben, [Google, Apple, Facebook und Amazon] würden Arbeitsplätze schaffen, in Wirklichkeit vernichten sie Arbeitsplätze«, erklärte der Autor und Professor der NYU, Stern School of Business, Scott Galloway, in seinem gefeierten Vortrag »Wer ist der fünfte Reiter?« »Sie tun nichts wirklich Böses, aber sie tun einfach mehr mit weniger. Genauer gesagt, sie machen viel mehr Umsatz mit viel weniger Leuten.«15
Und das gilt nicht nur für die »Großen Vier«, sondern auch für viele der aufstrebenden Riesen, die u. a. schwerwiegende und anhaltende Auswirkungen auf die bestehenden Beschäftigungsökosysteme haben. Insbesondere werden viele der Arbeitsplätze nicht ersetzt, die durch ihre Geschäftsmodelle verdrängt werden. Man braucht sich nur die Auswirkungen der sozialen Medien auf traditionelle Medien ansehen, die sich durch Werbung und Abonnements finanzieren, oder die Flächenbombardierung des Einzelhandels durch den Online-Handel. (Und das ist natürlich nur ein Vorgeschmack auf das, was mit der kommenden Automatisierungs- und KI-Revolution noch auf uns zukommt. Der Dienstleistungsriese PricewaterhouseCoopers prognostiziert, dass bis Mitte der 2030er Jahre bis zu 30 Prozent der Arbeitsplätze durch Automatisierung gefährdet sein werden.)16 Die als eher sicher geltenden Arbeitsplätze der Tech-Giganten erfordern allerdings normalerweise eine hohe Fachkompetenz. Die Aussagen, man könne freigesetzte Arbeitskräfte entweder umschulen oder weiterbilden, ist entsprechend sehr weit hergeholt.
1,42 Dollar pro Stunde
Nicht vergessen sollte man die chronisch lückenhafte Bilanz der Tech-Giganten, wenn es um die Arbeitsbedingungen an Orten wie den chinesischen Zulieferbetrieben geht. Die Arbeitsverhältnisse kann man nicht einmal mehr als prekär bezeichnen. Die Arbeiter werden vielmehr schlichtweg ausgebeutet. Im Juni 2018 recherchierte China Labor Watch (CLW), eine in New York City ansässige Nichtregierungsorganisation zur Überwachung der Rechte chinesischer Arbeitnehmer, im Foxconn-Werk Hengyang, wo Amazon Kindles, Echo Dots und Tablets herstellt werden.
Dem CLW-Bericht17 zufolge konnte die Recherche beweisen, dass in dieser Fabrik eine zu hohe Zahl so genannter »Leiharbeiter« beschäftigt war. Diese bei Agenturen angestellten Arbeiter genießen nicht den gleichen Schutz wie die bei der Fabrik direkt angestellten Arbeitskräfte. Alle Arbeiter waren langen Arbeitszeiten und niedrigen Löhnen unterworfen.
Damals reagierten sowohl Amazon als auch Foxconn mit der Ankündigung, sie würden die Arbeitsbedingungen in der Fabrik verbessern. Doch stattdessen wurden die Bedingungen noch schlechter.
Knapp ein Jahr später fanden die Prüfer von CLW einen ganzen Katalog an Verstößen im gleichen Amazon-Zulieferwerk, darunter zu viele Überstunden, zu niedrige Löhne und zu viele rechtswidrig beschäftigte Arbeitnehmer – eine zu hohe Anzahl an Leiharbeitern sowie 16- bis 18-jährige »Praktikanten«, die angeblich Überstunden und Nachtschichten leisten mussten.18 Die Beschäftigung von Praktikanten ist besonders besorgniserregend für ein Unternehmen dieser Größenordnung. Amazon hatte zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Kapitels eine Marktkapitalisierung von rund 1 Billion Dollar und generierte 2019 einen Umsatz, der in etwa dem BIP Finnlands oder Vietnams entsprach. Als der Bericht von CLW veröffentlich wurde, hatte Foxconn bereits 1581 Praktikanten von Berufsschulen geholt, die umgerechnet 248 Dollar pro Monat oder 1,42 Dollar pro Stunde verdienten. 2018 bekamen sie umgerechnet noch 276 Dollar pro Monat.
Waren die Praktikanten nicht bereit, Überstunden oder Nachtschichten zu leisten, sorgte die Fabrik dafür, dass Lehrer den entsprechenden Druck ausübten. Bei einer Verweigerung von Überstunden oder Nachtschichten wurden die Lehrer aufgefordert, die Praktikanten zu entlassen.
Derart unter Beschuss geraten nahm Amazon seinerzeit Stellung: »Wenn wir Verstöße [gegen unseren Verhaltenskodex für Zulieferer] feststellen, ergreifen wir geeignete Maßnahmen, einschließlich der Forderung nach sofortigen Korrekturmaßnahmen.« Es überrascht nicht, dass Elaine Lu, Programmverantwortliche bei CLW, dieser Behauptung gegenüber skeptisch reagierte: »Als wir letztes Jahr unseren Bericht veröffentlichten, behaupteten Amazon und Foxconn, sie würden die [angesprochenen] Probleme angehen«, sagte sie. »Aber ein Jahr später waren die Probleme immer noch da.«
Zwei Monate nach der erneuten Überprüfung in Hengyang deckte CLW ähnliche Verstöße in Apples so genannter »iPhone City«, dem Foxconn-Werk in Zhengzhou auf, der größten iPhone-Fabrik der Welt.19 »Apple und Amazon haben jeweils einen eigenen Verhaltenskodex und viele der Probleme, die wir finden, verstoßen gegen [diese]«, sagte Lu. »Sie wären in der Lage, die Situation zu verbessern. Wenn wir als eine so kleine Organisation diese Probleme aufdecken können, stellt sich schon die Frage, warum sind Apple oder Amazon angesichts ihrer erzielten Gewinne nicht selbst in der Lage, diese Probleme in ihren Lieferketten zu finden?« Sie ließ die Frage unbeantwortet.
In vielen über die Jahre geführten Gesprächen fand ich in Unternehmen wie Amazon oder Apple niemanden, der auch nur im Entferntesten mit dieser Ausbeutung von Fabrikarbeitern, geschweige denn mit der Schande der Kinderarbeit einverstanden war. (Und es lohnt sich, darauf hinzuweisen, dass Tech-Unternehmen keineswegs alleine dastehen, wenn es um die Arbeitsbedingungen in Ausbeuterbetrieben geht. Von der Fast Fashion bis hin zur Spielzeugherstellung ist sie seit Jahren weit verbreitet.) Was auch immer der Grund für diese kognitive Dissonanz sein mag, ich vermute, dass es eine Kombination ist aus einer Einstellung »aus den Augen, aus dem Sinn« und dem »Silodenken« bei vielen dieser Tech-Riesen. Hardware-Hersteller sind hier besonders gut im Verschleiern und Verschweigen – nur wenige Angestellte dürfen jemals die Fabrikhalle betreten, Zugang zu substantiellen Informationen über Arbeitskosten und Arbeitsbedingungen haben oder Teil einer diesbezüglichen Entscheidung sein. Am Ende wähnen sich die Firmen tatsächlich in einem ethisch korrekten Umfeld. Die Fakten deuten jedoch wieder einmal auf eine andere Geschichte hin