Also sprach Corona. Wilfried Nelles
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Mauern
Das Kloster habe ich immer gemieden, obwohl es immer ganz nah war. Ich wäre auch nie freiwillig in ein Kloster gegangen, auch nicht zu einem Meditationsretreat wie manche meiner Freunde. Das hat sicher mit meiner Geschichte zu tun. Bis Napoleon sie befreite, waren meine Vorfahren in Marmagen, einem kleinen Eifeldorf, Leibeigene des Klosters Steinfeld. Das waren ihre Mauern, über die sie nicht hinwegkonnten. Dafür, dass sie für die frommen Brüder schufteten, bekamen sie allerdings auch etwas Wertvolles: Schutz und Schulbildung.
Schutz, weil die Äbte in Steinfeld keine Fanatiker waren, so dass ihre Schutzbefohlenen in Marmagen nicht auf dem Scheiterhaufen der Hexenverbrennung landeten, denen in den umliegenden Dörfern noch im 17. Jahrhundert viele hundert Menschen beiderlei Geschlechts zum Opfer fielen – die Grafen waren in dieser Hinsicht schlimmer als die Mönche. Die Vernichtung derer, die man des Paktes mit dem Teufel bezichtigen konnte, diente ihnen zur Disziplinierung ihrer Untergebenen.
Bildung, weil sie lange vor der allgemeinen Schulpflicht in deutschen Landen in dem kleinen Ort eine Schule mit einem vom Kloster abgestellten Magister Ludi betrieben. Einer davon hieß Leo Heinrich Bönickhausen und war wohl ein Urahn des Eifelturmerbauers Gustave Eiffel, der ursprünglich Alexandre Gustave Bonickhausen dit Eiffel, genannt Eiffel, hieß und den ursprünglichen Namen Bonickhausen dann im Namensregister austragen ließ. Diese Geschichte scheint sich bis in die Gegenwart hinein auszuwirken, denn der Ort hat immer noch einen vergleichsweise sehr hohen Bildungsstand.
Bis heute ist der Orden in Sachen Bildung engagiert, und da dort das nächstgelegene Gymnasium war, bin ich mit elf Jahren nach Steinfeld aufs Gymnasium gegangen. Das Kloster, das die Schule betrieb und innerhalb dessen weitläufigen Außenmauern sie stand, habe ich aber während meiner gesamten Schulzeit kaum betreten. Lediglich in der Bibliothek habe ich mich, wenn wir im Winter mehr als eine Stunde auf den Bus warten mussten, mit dem wir nach Hause fuhren, oft aufgehalten. Meine Freiheit war mir damals schon heilig, das Heilige hinter den Klostermauern fand ich eher bedrückend.
Auch als ich gut zehn Jahre nach meinem Schulabschluss eine ganz andere Art von Kloster betrat, den indisch-westlichen Ashram von Osho, der damals noch Bhagwan Shree Rajneesh hieß und in der deutschen Presse als Sexguru und Sektenführer verteufelt wurde, habe ich dies nur als gelegentlicher, kurzzeitiger Besucher getan. Ich bin im Rahmen meiner damaligen Forschungsarbeit auf ihn aufmerksam geworden, und als ich mich näher damit befasst habe, erschien er mir als eine Gestalt wie einst Jesus, und so jemanden musste ich unbedingt persönlich erleben. Auf die Lehre habe ich mich ganz eingelassen, auf den organisatorischen Rahmen, in dem sie gelehrt und gelebt (in meinen Augen oft auch nicht gelebt) wurde, nur so weit wie unbedingt nötig. Die Atmosphäre dort war zwar eine ganz andere als in jeder Art von religiöser Einrichtung, die ich kannte, alle schienen sich vollkommen frei und ungezwungen zu fühlen und zu verhalten, Lachen, pulsierendes Leben mit Tanz, freier Liebe und ebenso freier Sexualität, die aus dem Moment der Begegnung entstanden und ebenso spontan wieder enden konnten, wechselten sich ab mit tiefer Stille, die nicht erzwungen war, sondern von innen kam – aber auch diesen in vielerlei Hinsicht ganz unklösterlichen und freiheitlichen Ashram, der sich später progressiv-westlich »Commune« nannte, umgaben unsichtbare, für mich aber wahrnehmbare Mauern, sodass ich mich nie ganz hineinbegeben habe.
Meine Freiheit war mir immer kostbarer als alles andere – außer der Liebe und der Wahrheit. Für die war ich auch bereit, die Freiheit aufzugeben, denn in der Liebe und der Wahrheit, das habe ich wohl intuitiv gewusst, ist man immer frei. Das habe ich auch bei Osho immer gespürt, aber nicht in der Organisation, die ihn umgab. Immerhin habe ich dort entdeckt, dass es ein Innen in mir selbst gibt, einen Ort der Stille, der nicht von Mauern umgeben ist, mein inneres Kloster sozusagen. Nach vielen Jahren ist mir dieser Ort recht vertraut geworden, und wenn ich mich dort aufhalte, kann mir der äußerliche Lärm nichts anhaben.
Jetzt sitze ich also in meinem Corona-Kloster und versuche, zu hören, was uns die Göttin zu sagen hat, und es zusammen mit dem, was dabei in und mit mir geschieht, aufzuschreiben.
Corona spricht
Notwendigkeit und Freiheit
Ich hatte von der Natur gesprochen und fahre noch ein wenig damit fort. Natur ist Bindung. In der Natur gibt es keine Freiheit, Natur ist reine Notwendigkeit. Das gilt für euch genauso wie für mich. Ich habe euch nicht überfallen, ich bin nicht euer Feind, und ich habe mich auch mit niemandem gegen euch verschworen. Ihr sucht ständig nach Gründen für das, was existiert, aber es gibt keinerlei Grund oder Ursache für unser Dasein, weder für mein Dasein bei euch noch für mein Dasein überhaupt. Genau wie bei euch: Auch für euer Dasein gibt es keinen Grund. Ihr existiert, genau wie ich seid ihr irgendwann einmal aufgetaucht aus dem Nichts, und dorthin werdet ihr eines Tages wieder verschwinden. Das gilt für jeden Einzelnen von euch wie auch für euch alle zusammen. Anfang und Ende sind eins.
Ich verstehe, dass ihr am Leben hängt – das tun wir alle, das Leben will leben, das ist uns allen eingepflanzt. Habt ihr mich verstanden? Es ist das Leben selbst, das leben will. Auch in mir, auch durch mich. Ihr seid dabei nur eine von Millionen Weisen und Gestalten, in denen die Kraft, die ihr »Leben« nennt, sich ausdrückt. Als Einzelne seid ihr nicht wichtig – für euch selbst vielleicht, aber nicht für das Leben. Wenn ihr so vernünftig wärt, wie ihr meint, müsstet ihr sehen, dass ihr alle sterben müsst und dass es auf ein paar Jahre mehr oder weniger nicht ankommt. Wenn es auf etwas ankommt, dann darauf, wie man diese paar Jahre lebt.
Ihr seid die einzigen Lebewesen, die wissen, dass sie leben. Die ganze Natur ist Leben, aber niemandem außer euch ist das bewusst. Das ist eure Gottesgabe und, wenn ihr nicht begreift, was das bedeutet, auch euer Fluch. Denn ihr wisst nicht nur, dass ihr lebt, ihr wisst auch, dass ihr sterbt. Früher habt ihr das als euer Schicksal hingenommen, von Gott oder den Göttern gewollt. Dagegen kann man nichts machen, gegen Gott ist der Mensch machtlos, er kann höchstens beten, bitten und opfern, damit die Götter ihm gut gesinnt bleiben und er nicht krank wird und so lange leben darf, wie es ihm gut geht; und wenn es ihm nicht mehr gut geht, bittet er darum, von Gott in sein Reich aufgenommen zu werden.
Das ist vorbei, das Reich Gottes gibt es für euch nicht mehr, der Tod ist das Ende, aus und vorbei. Es gibt für euch keinen Ort mehr, wo ihr nach dem Tod hingeht – was immer ihr glauben mögt, an das Paradies glaubt niemand mehr, noch nicht einmal die Kirchen, nicht ihre Bischöfe und auch nicht der Papst. Oder hat einer von denen jetzt, wie Jesus es seinem Mitgekreuzigten Barabbas zugerufen hat, zumindest ihren so genannten Gläubigen gesagt: »Fürchtet euch nicht, schon morgen werdet ihr beim Vater sein«? Oder »Eure Alten werden bei Gott sein, habt keine Angst«? Hat auch nur ein Kirchenfürst gesagt, man müsse den Tod nicht fürchten, weil das Reich Gottes auf die Toten wartet? Nicht einmal zu einem großen öffentlichen oder auch persönlichen Gebet haben sie aufgerufen. Eure Kirchen sind tot, weil ihre und eure Religion ebenfalls längst tot ist. Die Kirchen verwalten nur noch einen Leichnam, der längst verwest und nicht mehr zum Himmel zeigt, sondern stinkt.
Dass der Tod jetzt für euch das absolute Ende ist, ist für euer Gemüt aber schwer auszuhalten, also müsst ihr ihn verhindern, um so gut wie jeden Preis. Das ist einer der Gründe dafür, dass eure Altenheime so voll sind, wenn auch nicht der einzige. Ihr tut alles, um so lange wie möglich zu leben – nein: um so lange wie möglich nicht zu sterben. Dazu sind die Altenheime da: nicht, um zu leben, sondern um so lange wie möglich nicht zu sterben. Gestorben wird natürlich trotzdem,