Umbruch. Paul U. Unschuld

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Umbruch - Paul U. Unschuld

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haben, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Fähigkeit zu Souveränitätsaufgabe und Kompromissbildung auch auf die nächsthöhere Ebene mitbringen. Dass innerhalb eines Staates noch Aversionen zwischen einzelnen Gruppen und Ethnien bestehen, ist kaum zu vermeiden und muss den Erfolg der Vergesellschaftung zur EU nicht gefährden. Problematisch wird es dann, wenn eine nationale Regierung, gestützt auf den mehrheitlichen Wählerwillen, die Anforderungen an die Vergesellschaftung in Frage stellt.

      Hier nun kommt der oben angedeutete Zustand der Türkei in den Blick. Die Türkei zeigt sich bisher nicht für die EU gesellschaftsfähig. Die von der Mehrheit der türkischen Bevölkerung legitim in demokratischen Verfahren gewählte Regierung geht den entgegengesetzten Weg zur Vergesellschaftung. Sie strebt die Schaffung einer Gemeinschaft der Islamisten an. Die Bezeichnung Islamisten ist hier gerechtfertigt, da die Politik der Durchsetzung eines Alleingeltungsanspruchs des Islam den Weg bahnt. Jedes Kind in der Türkei ist in der Schule gezwungen, am sunnitisch-islamischen Religionsunterricht teilzunehmen; eine Alternative ist nicht erlaubt.

      Doch selbst wenn sich in der bisherigen EU diejenigen durchsetzen werden, die die Türkei als nicht europatauglich ansehen und diesem Land die Mitgliedschaft in der EU verwehren, wird sich der innere Zustand des Landes und die Mentalität seiner Bevölkerung auch auf die innere Situation in Deutschland und in anderen Mitgliedsstaaten der EU auswirken. Der Grund liegt in der großen Anzahl von Menschen, die die islamistische Regierungspolitik in der Türkei unterstützen, die nach Deutschland einwandern und die hier in einer Weise aktiv werden, die dazu beiträgt, dass auch in Deutschland die Struktur einer «Gesellschaft» im beschriebenen Sinne beschädigt wird. Dass sich in deutschen Grundschulen türkische Kinder weigern, neben kurdischen Kindern die Schulbank zu drücken, ist zwar ein bedauerliches, aber noch nicht allzu besorgniserregendes Anzeichen für die überregionalen Auswirkungen der Abgrenzungspolitik in der Türkei auf Deutschland.

      Vor diesem Hintergrund verdient der Fall einer türkisch-stämmigen Muslima im Mai 2015 in Berlin Beachtung, die für ihr juristisches Referendariat einen Antrag stellte, in eine hoheitlich tätige Behörde aufgenommen zu werden und im Dienst ihr Kopftuch zu tragen. Das wurde ihr zunächst verwehrt, weil das Berliner Neutralitätsgesetz das Tragen religiöser Symbole im Zuge einer Ausübung hoheitlicher Aufgaben nicht gestattet. Ein Kompromiss sollte es der jungen Frau ermöglichen, gleichsam ungesehen von der Öffentlichkeit Referendarstätigkeiten auszuüben, auch ohne das Kopftuch abzunehmen. In der öffentlichen Diskussion zeigte ein türkisch-stämmiger Politiker der Partei DIE LINKE Unverständnis für die Abweisung der Frau. Er verband seine Kritik mit der Forderung, auch Gläubigen weiterer Religionen das sichtbare Tragen ihrer religiösen Symbole im hoheitlichen Bereich zu erlauben. Nachdem ein Berliner Gericht am 8. Februar 2017 das Land Berlin zu einer Zahlung von knapp 9 000 Euro «Schmerzensgeld» an eine Muslima verurteilt hatte, die wegen ihres Kopftuchs nicht zum Schuldienst zugelassen worden war, unterstützte der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt von der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diese Forderung und ließ verlauten, er hoffe, dass nun das Neutralitätsgesetz insgesamt auf den Prüfstand komme4. Inzwischen, im Jahre 2020, hat er mit eigenmächtigen Entscheidungen, das Kopftuch für Rechtsreferendarinnen zuzulassen, das Gesetz de facto ausgehebelt.

      Andere Politiker, unter anderem die Berliner Senatoren für Inneres und Schulen, beide von der SPD, zeigten Verständnis für die strikte Befolgung des Berliner Neutralitätsgesetzes. Ein Verfassungsrechtler wies auf die verschiedenen Grundrechte hin, die hier zusätzlich berührt seien, insbesondere die Freiheit der Berufswahl und die Freiheit der Religionsausübung.

      Worum geht es? Zum einen um den Erhalt der «Gesellschafts»-Struktur. Sie besteht darin, dass unterschiedliche Gemeinschaften, das sind insbesondere religiöse und explizit-nichtreligiöse Gruppierungen, innerhalb eines politischen Gemeinwesens einigermaßen friedlich zusammenleben können. Da ist zum anderen die Frage, ob ein Kopftuch als religiöses Symbol mit dem christlichen Kreuz vergleichbar ist.

      7

      Das Textil

      Vor mehr als einhundert Jahren hat Siegfried Seligmann in seinem zweibändigen Werk Der Böse Blick erstmals ausführlich die weltweit in vergangenen Jahrtausenden erkennbare kulturprägende Rolle von Bemühungen aufgezeigt, die vielleicht destruktivste zwischenmenschliche Emotion, das ist der Neid, in ihrer zerstörerischen Kraft zu mäßigen, wenn nicht gar völlig auszulöschen. «Der Böse Blick» – mal de ojo im Spanischen, evil eye im Englischen – ist in althergebrachtenVorstellungen zahlreicher Völker die Ursache für Krankheit der Frauen, der Kinder, des Viehs, ebenso wie für Unheil und Unglück, das unerklärlich und unvorhersehbar einen Menschen oder eine Familie befällt.

      «Der Böse Blick» geht stets von den Benachteiligten aus. Das können alle die Menschen sein, die benachteiligt auf diejenigen schauen müssen, denen es gut oder jedenfalls besser geht. Vielleicht weil sie kräftiger sind und mehr Wild erjagen oder Fische fangen können, weil das Stück Land, das sie bebauen, etwas mehr Ernte erbringt, oder weil sie ein wenig klüger als die anderen sind und daher überdurchschnittlich viel von dem erhalten, was die Natur für alle bereithält. Seligmann erkannte in der Vorstellung vom «Bösen Blick» die Angst vor dem Neid der Zukurzgekommenen.

      Dem Neid, so Seligmann, ist keinerlei konstruktive Facette zu eigen; der Neider sieht das eigene miserable Dasein durch diejenigen bedingt, denen es besser geht, und er sinnt allein darauf, Letzteren zu schaden. Die Potlatch- und anderen Schenkungs-Riten beispielsweise der nordamerikanischen Indianer, die dazu bestimmt waren, den Mehrbesitz innerhalb der Gemeinschaft immer wieder zu Gleichbesitz zurückzuverwandeln, bildeten die eine kulturelle Maßnahme, dem Neid zuvorzukommen. Wenn alle das Gleiche besitzen, oder jedenfalls davon ausgehen können, dass Mehrbesitz immer nur vorübergehend ist und keine Machtansprüche eines Teils der Gemeinschaft über einen anderen begründet, dann kann auch kein Neid entstehen. Aber das war nur die eine Seite: die Vorbeugung.

      Der Vorbeugung des Möglichen stand die Abwehr des Faktischen gegenüber. Benachteiligte, die sich nicht in ihr Schicksal ergeben können, wird es stets geben. Wie aber schützt man sich vor dem Bösen Blick des Neiders? Noch heute benutzt man im Mittelmeerraum dazu Amulette. Eine vielleicht noch wirksamere Methode ist es, den Besitz, der dem Anderen fehlt, und der dessen zerstörerischen Bösen Blick hervorrufen könnte, zu verbergen. Materielle Güter können umverteilt werden. Eine gesunde und glückliche Familie sind nun einmal dem einen gegeben, dem anderen nicht – und dieser Vorteil wird auch auf lange Zeit bestehen bleiben. Die Frauen zu verbergen, war in traditionellen Teilhabe-Gemeinschaften ein weit verbreiteter Brauch. Sie wurden entweder gar nicht in die Öffentlichkeit gelassen oder aber so verkleidet, dass sie den Blicken eines Fremden nicht ausgesetzt waren.

      Die Ganzkörperbekleidung, die so genannte Burka im Orient, ist ein Relikt aus dieser Zeit. Ihr Ursprung ist wohl kaum noch jemandem bewusst, aber die Funktion ist geblieben, nämlich die Frau den Augen der Fremden außerhalb der Familie, außerhalb der schützenden Mauern des Hauses zu entziehen. Der fundamentalistische Islam hat die Ganzkörperbekleidung für sich als Symbol identifiziert und diesen Brauch seiner ursprünglichen kulturellen Bedeutung entzogen. Übrig geblieben ist lediglich ein fragmentarisches Symbol – das Kopftuch. Wenn junge Muslimas im Internet auf die Frage, warum sie ein Kopftuch tragen, antworten, «der Kopf ist meine Intimzone», dann messen sie dem Textil eine schützende Funktion vor dem Blick fremder Männer zu.

      Das Kopftuch wird innerhalb der Familie abgelegt. Es richtet sich also allein gegen fremde Blicke. Obwohl ein Kopftuch so schmückend und hübsch sein kann, dass es die Blicke geradezu auf sich zieht – betrachtet wird eben nur die Hülle und nicht das, was darunter ist.

      So gesehen ist das Kopftuch heute ein ganz banales Stück Textil geworden, wie jedes andere Kleidungsstück. Das Kopftuch ist primär kein religiöses Symbol. Dass männliche Imame das auf eine harmlose Kopfbedeckung geschrumpfte ursprüngliche Kleidungsstück als

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