Umbruch. Paul U. Unschuld

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Umbruch - Paul U. Unschuld

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in der Bevölkerung zu der von Präsident Erdoğan im Juli 2020 verfügten Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee ist, ist wohl nur Insidern bekannt. Ein überaus symbolträchtiger Meilenstein auf dem Weg des Landes in die religiöse Einfalt ist dieser weitere Affront gegen das Erbe von Atatürk allemal. Die Türkei, das ist der Schluss, den der Blick auf dieses Land nahelegt, hat den Schritt in eine moderne Gesellschaft bislang nicht vollzogen, und es sind auch kaum Anzeichen erkennbar, dass sich daran etwas grundlegend ändern könnte.

      Alle diese Entwicklungen sind innere Angelegenheiten der Türkei und können von außen mit Zustimmung oder Missbilligung wahrgenommen werden. Wenn die türkische Bevölkerung mehrheitlich diesen Islamisierungskurs durch die Wahl entsprechender Regierungspolitiker unterstützt, dann ist das zu akzeptieren. Bemerkenswert ist hier allerdings, und daher diese knappe Auflistung einiger ausgewählter Daten aus der jüngsten Geschichte der Türkei, dass das Bestreben, ein nationalistisch-religiös homogenes Staatsgebilde zu schaffen, in der Türkei nach wie vor höchste Priorität im Bewusstsein weiter Bevölkerungsteile und daher auch in der staatlichen, regionalen und lokalen Politik genießt. Die politischen Aktionen der türkischen Regierungen im abgelaufenen Jahrhundert gegenüber ethnischen Minderheiten und religiös Andersgläubigen – das sind für die Einen notwendige Aktionen zur Schaffung einer rein islamischen türkischen Gesellschaft, und das sind für die Anderen Scheußlichkeiten, die im 20. Jahrhundert einfach nicht hinnehmbar sind – seien hier aus dem Grunde angeführt, weil im Juli 2015 59,7 % der Türken, die in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert sind und sich an türkischen Parlamentswahlen beteiligt haben, die für diese Aktionen verantwortliche Regierung gewählt haben. Bei der vorgezogenen Präsidenten- und Parlamentswahl am 24. Juni 2018 wählten 64,8 %, das sind zwei Drittel der in Deutschland lebenden Wähler, Erdoğan zum Präsidenten und stimmten damit für die neue Verfassung, die ihm noch deutlich mehr Macht einräumen sollte.2 Sie bringen damit zum Ausdruck, dass sie eine solche Politik für angemessen und wünschenswert halten. Der Glaube, dass ein Leben in Deutschland die türkischen Mitbürger allmählich auf den Wertekanon der demokratischen Gesellschaft in Deutschland einstimmen wird, erweist sich zunehmend als Irrglaube. Tatsächlich verfestigt sich das Nebeneinander von Parallelgesellschaften.

      Manch ein Leser der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mag sich am 7. September 2015 die Augen gerieben haben.3 Da beklagt sich Ahmet Davutoğlu, ehemaliger Ministerpräsident der Türkei und Absolvent des zur Hälfte mit deutschen Lehrern ausgestatteten und von deutschen Steuerzahlern finanzierten Elite-Gymnasiums İstanbul Lisesi, über die «Errichtung einer christlichen Festung Europa» und spricht von Geschichtsvergessenheit im Hinblick auf die historischen Fakten. Eine «christliche Festung Europa», in der mehr als zehn Millionen Muslime unbehelligt leben, allerorten Moscheen eröffnen dürfen und alle Rechte genießen, die christlichen Gemeinschaften in der Türkei nicht zugestanden werden? Wahrscheinlich geht der türkische Politiker davon aus, dass «die Europäer» nicht nur die längst vergangene europäische Geschichte nicht kennen, sondern auch mit der jüngeren türkischen Geschichte keineswegs vertraut sind. Dort wird schließlich die christliche Vergangenheit weiter Teile des heute türkischen Territoriums geleugnet. Zielstrebig wird die «islamische Festung» errichtet, einhergehend mit der Auslöschung auch der letzten noch verbliebenen Spuren christlicher Präsenz; all dies mit Billigung und tatkräftiger Unterstützung der politischen Kreise, die Herrn Davutoğlu an die Regierung gebracht haben. Die Frage für die nicht-türkischstämmigen Deutschen lautet: Wer wird in Zukunft das Zusammenleben der nicht-islamischen Bürger Deutschlands mit den türkischen Migranten bestimmen: Die 59 % Erdoğan/AKP-Wähler oder die 41 % der in Deutschland lebenden Türken, die sich nicht für Erdoğan und seine AKP-Islamisierungspolitik begeistern können? Im Frühjahr 2015 besuchte der türkische Staatspräsident und vormalige Vorsitzende der AKP die Bundesrepublik, um seine in Deutschland lebenden Mitbürger zur Wahl der AKP zu bewegen. Zum Auftakt der Kundgebung in der Messehalle in Rheinstetten bei Karlsruhe begrüßte Erdoğan die Tausenden Türken, die gekommen waren, um ihm zu huldigen, mit den Worten: «Ihr seid für uns nicht Gastarbeiter, sondern unsere Stärke im Ausland.» Die Türken in der Bundesrepublik seien «die Stimme der Nation». Die Anhänger skandierten: «Wir lieben dich, Erdoğan, wir sind stolz auf Dich», und auf Erdoğans Aufforderung riefen sie die Formel: «Eine Nation – eine Fahne – ein Vaterland – ein Staat».

      Als am 17. November 2015 in allen Fußballstadien Europas die letzten Ausscheidungsspiele für die Europameisterschaft 2016 in Paris stattfanden und zugleich zahlreiche internationale Freundschaftsspiele angesetzt waren, bestand allerorten Einigkeit, die Spiele im Gedenken an die islamistischen Verbrechen in Paris nur wenige Tage zuvor mit einer Schweigeminute einzuleiten. In Istanbul war ein Spiel der Türkei gegen Griechenland angesetzt. Ein Großteil der Fans nahm die Schweigeminute wahr, um ihre Sympathie für die Schlächter von Paris zu demonstrieren. Sie sangen die Hymne der Nationalisten: «Die Märtyrer sind unsterblich; das Vaterland ist unteilbar!» Mit solchen Bildern und Berichten in den deutschen Medien werden Gefühle nicht nur der hier lebenden Türken, sondern auch der hier lebenden Nicht-Türken angesprochen. Und diese Gefühle wirken sich aus.

      Wie tiefgreifend die Distanz zwischen den einheimischen Deutschen und einer Vielzahl der in Deutschland lebenden Türken geblieben ist, zeigte sich auch Ende Mai/Anfang Juni 2016 im Vorfeld der für den 2. Juni geplanten Resolution des Deutschen Bundestags zum Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren. Zehntausende wütender E-Mails, abgesandt aus Deutschland und der Türkei, überschwemmten die Server des Deutschen Bundestags. Tausende Türken demonstrierten auf der Straße gegen die Verabschiedung der Resolution. Mit Drohungen und Erpressungsversuchen wurde Druck nicht zuletzt auf Abgeordnete mit türkischem Migrationshintergrund ausgeübt.

      Die deutsche Kultur der Selbstbesinnung und der uneingeschränkten Schuldeingeständnisse der gesamten deutschen Bevölkerung angesichts der Verbrechen der NS-Zeit begegnet jedem, der in Deutschland lebt, auch mehr als 75 Jahre nach Kriegsende noch tagtäglich in den Medien, im gesamten öffentlichen Leben, an ungezählten Gedenkorten, einschließlich der vielen Stolpersteine vor den ehemaligen Wohnungen der Opfer. Offenbar hat dieses kulturelle Umfeld überhaupt keinen Einfluss auf das Denken derjenigen neuen Mitbürger gehabt, die auch 100 Jahre nach den Verbrechen an den Armeniern der historischen Wahrheit nicht zu begegnen wünschen.

      Man möchte meinen, sie hätten genügend Zeit und Gelegenheit gehabt, an dem Beispiel Deutschlands einzusehen, dass das Eingeständnis auch schwerster Verfehlungen nicht das Ende des Staates und der Gesellschaft ist – im Gegenteil als Befreiung von großer Last empfunden werden kann. Aber zu dieser Art von Integration in die deutsche Kultur der kollektiven Erinnerung sind diejenigen offenbar nicht fähig, die sich auch in Deutschland an des Präsidenten Erdoğans Mahnung halten, allerorten «die Stärke der Türkei» zu repräsentieren. Selbst Aydan Özoğuz, die Beauftragte des Bundestags für Integrationsfragen, eine SPD-Politikerin türkischer Herkunft, distanzierte sich öffentlich von der Resolution.4

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      EU als europaweite Vergesellschaftung

      Der Weg in die Gesellschaft als politische Struktur, die das Zusammenleben von Fremden als notwendig, sinnvoll und daher wünschenswert ansieht und durch entsprechende staatliche Institutionen ordnet, wird in der Türkei nicht eingeschlagen. Auch das muss im Grunde als innerstaatliche Eigenart betrachtet werden. Dennoch ist der türkische Weg allgemein wichtig aus zumindest zwei Gründen. Da ist zum einen das von der Türkei eröffnete und von manchen westlichen Politikern geförderte Aufnahmeverfahren in die EU. Hier muss man sich fragen, ob die Türkei Europa-«gesellschafts»-fähig ist. Die EU ist die nach den Nationalstaaten logische nächsthöhere Ebene der Vergesellschaftung.

      Nicht nur aus deutscher Sicht hat die Nationalstaatlichkeit ihre Grenzen erreicht. Die verschiedenen Stufen der Vergesellschaftung in Deutschland, ob es die Gründung des Norddeutschen Bundes war, dann die Gründung des Deutschen Reiches, waren stets notwendig, um die kontinuierliche Ausweitung existenzsichernder Handelsbeziehungen in feste politische Strukturen

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