Umbruch. Paul U. Unschuld

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Umbruch - Paul U. Unschuld

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manchen Orten der Welt konnten kleinere Stammesgemeinschaften bis in die jüngere Zeit ihre traditionellen Lebensweisen bewahren. Die allgemeine Entwicklung verlangte jedoch nach größeren Verbünden und bewirkte damit den Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft.

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      Gesellschaft und Vertrauen

      Ferdinand Tönnies erklärt Gesellschaft mit dem dauerhaften Umgang zwischen Fremden innerhalb eines Siedlungsgebiets:

       «Gesellschaft ist der Verbund von Menschen, die voneinander wesentlich getrennt sind, während sie in der Gemeinschaft wesentlich miteinander verbunden waren. Handlungen in einer Gesellschaft erfolgen daher nicht im Hinblick auf eine vorhandene Einheit oder ein Gemeinwohl, sondern entspringen dem je eigennützigen Einzelwillen. Tut jemand etwas für einen anderen, so verlangt er dafür eine Gegenleistung.» 1

      Eine der einschneidenden Veränderungen, die den Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft begleiteten, war die Ergänzung des in der Gemeinschaft auch weiterhin geübten Teilens des Erwirtschafteten durch den Austausch der Überschüsse zwischen den verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft. Neue Konzepte wie Kauf und Vertrag gewannen an Bedeutung.

       «Der einigende Wille im Tausch heißt Kontrakt und ist der Überschneidungspunkt zweier Einzelwillen. Im Kontrakt wird von beiden Seiten ein Versprechen gegeben, dass gleich oder zu einem späteren Zeitpunkt Waren ausgetauscht werden. Der Kontrakt gibt also das Wort statt der Ware. … Ein besonderer Kontrakt ist jener, in dem eine Seite die Ware abgibt, ohne zunächst Geld dafür zu nehmen: der Kredit.» 2

      Der Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft verlief keinesfalls glatt und reibungslos. Hier zeigte sich eine Kluft im gegenseitigen Miteinander, die geschlossen werden musste. Leben konnte man miteinander nur, wenn man sich wie auch in der Gemeinschaft vertraute.

      Die Bezeichnung «Kredit» sagt genau aus, worum es geht: Ohne gegenseitiges Vertrauen kann kein geordnetes Miteinander der Menschen von Dauer sein.

      Kern des Vertrauens ist in der Regel die Familie. Auch in der Familie sind Mord und Totschlag, Verrat und Hintergehen möglich. Doch in den allermeisten Kulturen steht die Familie zusammen; sie ist gezwungen, zusammenzuhalten. Das muss nicht die klassische Vater-Mutter-Kinder-Familie sein; das können auch andere, unterschiedliche Familienstrukturen sein, denen jedoch allen eines gemeinsam ist: Sie sind zuständig für die Fortpflanzung und vererben einen Generationenvertrag. Die Älteren ziehen die Jüngeren auf, bis sie stark genug sind, selbst wieder Jüngere zur Welt zu bringen, um diese aufzuziehen. Die Jüngeren danken es den Älteren, indem sie sie pflegen und nähren, wenn die Zeit der Schwächung gekommen ist. Es gibt Ausnahmen, in denen die Älteren früher aus dem Dasein gedrängt werden, als vielleicht die Biologie es fordert, und die Verpflichtungen der Jüngeren gegenüber den Älteren können die unterschiedlichsten Formen annehmen. Aber im Mittelpunkt des familiären Zusammenhalts, wie auch immer er im Detail in den verschiedenen Kulturen organisiert sein mag, steht das Vertrauen. Man schläft gemeinsam, man isst gemeinsam und kann nicht jedesmal prüfen, ob das Essen vergiftet und der einzelne Schlafplatz vor Eindringlingen gesichert ist. Vor allem muss der Einzelne nicht horten und sein Eigentum vor den anderen schützen. Alle haben Anteil an allem. Denn die Familie ist auf Vertrauen aufgebaut, und ohne dieses Grundvertrauen ist die Fortdauer der Generationen nicht gewährleistet.

      Dass der Generationenvertrag keine Selbstverständlichkeit ist, zumal in komplexeren Gesellschaften, mag das Beispiel Chinas zeigen. Vor mehr als zwei Jahrtausenden in einer Zeit des «Jeder-gegen-Jeden», in der jahrhundertelangen Periode der «Kämpfenden Reiche» vor der Reichseinigung im Jahre 221 v. Chr., war auch die Familie kein Garant mehr für Sicherheit und Vertrauen. Der Konfuzianismus sah es daher als dringend notwendig an, die Beziehungen in der Familie durch ein enges Netz gegenseitiger Verpflichtungen und somit Erwartungen zu stabilisieren. Erst diese Stabilisierung vermittelte eine Gewissheit der gegenseitigen Abhängigkeit, und aus dieser gegenseitigen Abhängigkeit erwuchs eine Gewissheit des zu erwartenden Handelns eines jeden anderen Familienmitglieds, und diese Gewissheit schließlich bildete die Grundlage des Vertrauens.

      China ist wohl die älteste Kultur, die dem heutigen Betrachter ein recht genaues Bild von den Verhältnissen einer Gesellschaft vermittelt, die als Mischkultur aus unzähligen Gemeinschaften erwachsen war. Die schwierige Aufgabe in der frühen Bildungsphase einer Gesellschaft bestand darin, die Vertrauenskluft zu überbrücken zwischen den nun zum Zusammenleben vereinten Gemeinschaften. Das mögen Familienverbünde mit Hunderten Mitgliedern gewesen sein oder größere Einheiten mit Tausenden von Angehörigen, die sich bereits unter dem Schirm eigener verbindlicher Normen vereint hatten und nun mit denen in engem Kontakt lebten, die ähnliche, andere oder sehr unterschiedliche Grundwerte mit einbrachten.

      Wenn Menschen als Familie oder Familienverbund zusammenleben, dann ist der Austausch von Gütern gegen Güter, von hilfreicher Handlung gegen einen Wertgegenstand oder sonstiger Dinge und Tätigkeiten, die der eine gibt und für die er eine Gegengabe erwartet, informell geregelt. Jeder weiß, wer wem gegeben hat und was der Empfänger schuldet. Und wenn der Empfänger seiner Pflicht zur Gegengabe nicht nachkommt, hat das für ihn unausweichliche Folgen. Jeder weiß, was auf ihn zukommt, wenn er das Vertrauen verletzt.

      Das ist nicht so im Umgang mit Fremden. Auch hier findet ein Austausch von Gütern, Wissen, Handlungen statt, aber der Empfangende kann sich seinen Verpflichtungen entziehen, ohne Folgen befürchten zu müssen. Er kann sich in seine Region, in seinen Clan, in seine Familie zurückziehen, ohne dort eine Strafe befürchten zu müssen. Das ist dann ein Raub, und nicht selten waren die Beziehungen benachbarter Stämme oder Völker durch solche Raubzüge gekennzeichnet. Überall dort, wo sich die Erkenntnis durchsetzte, dass letztlich beide Seiten davon profitieren, wenn Gabe mit Gegengabe vergolten wird, ohne dass die Gegengabe mit Gewalt eingefordert werden muss, bestand die Aufgabe darin, das notwendige Vertrauen zu schaffen.

      Der Vertrag ist nichts wert, wenn es keine Instanz gibt, die seine Durchsetzung ohne Bevorzugung der einen oder anderen Vertragspartei garantiert. Nur wo eine solche Instanz existiert, die das Vertrauen auf Unparteilichkeit aller genießt, kann auch ein Vertrauen zwischen den Mitgliedern verschiedener Gemeinschaften entstehen. Es sind Gemeinschaften, die den Austausch ihrer Güter nicht nur im gleichzeitigen Geben und Nehmen mit der linken und der rechten Hand üben, sondern in komplizierteren Handelsbeziehungen, die immer auch eine Vorleistung einer der beiden Seiten bedingen. Die Lösung lag in der Schaffung von Autoritäten, die gleichsam über den beteiligten, voneinander durch Misstrauen getrennten Parteien standen. Es war die Gründung des Staates mit seinen Behörden und Institutionen, die vermittelnd wirkte. Der Staat gründet auf Institutionen, die sich als neutrale, unparteiische Vermittler für die Rechte aller Beteiligten einsetzen. Das Justizwesen, die Banken, Polizei, die Regierung sollten in einer wohlorganisierten Gesellschaft das Vertrauen aller genießen und über den Partikularinteressen der einzelnen Gemeinschaften stehen, die als Verbund die Gesellschaft bilden.

      Der Blick auf viele Gesellschaften der Gegenwart zeigt, dass die realen Strukturen allzu oft nicht diesen Grundbedingungen einer Gesellschaft entsprechen.

      5

      Die Türkei – zurück zur einzelnen Gemeinschaft

      Ein naheliegendes Beispiel ist die moderne Türkei, die als Republik im Jahre 1923 gegründet wurde. Das Gebiet der heutigen Türkei war vor einem Jahrtausend ein rein christlicher Siedlungsraum. Die Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 1453 besiegelte das Ende des Byzantinischen Reiches und war der Beginn der Islamisierung der fortan von den Türken beherrschten Regionen. Das Osmanische Reich räumte allerdings selbst in seiner Endzeit im

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