Umbruch. Paul U. Unschuld

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Umbruch - Paul U. Unschuld

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Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert lebten auf dem Gebiet der heutigen Türkei mehr als zwei Millionen Christen. Doch schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich religiöse islamistische und nationalistische Bestrebungen, die gesellschaftliche Vielfalt im Sinne einer rein islamistisch-sunnitischen Gemeinschaft umzuformen.

      Eine Kette von umfangreichen Mord- und Vertreibungsaktionen setzte in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Im Jahre 1843 wurden durch den kurdischen Stammesführer Bedirxan Beg bei Massakern mindestens 10000 Armenier und Bergnestorianer in Aşita (Hoşut) im Sandschak Hakkâri ermordet. Frauen und Kinder wurden z. T. in die Sklaverei verkauft. Das mal mehr, mal weniger ausgesprochene Ziel der Völkermorde, Vertreibungen und auf sonstige Weise verwirklichten «Säuberungen» war es, ein Territorium unter die Kontrolle oder Herrschaft allein einer Ethnie oder einer religiösen Wertegemeinschaft zu zwingen und somit das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Ziel war es, ebenso wie im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aus der Vielfalt einer Gesellschaft in die Einfalt der einen Weltanschauung, des einen Glaubens, der einen Ethnie zurückzukehren.

      Die islamistisch-nationalistischen Säuberungsaktionen zählen zu den im Rückblick schrecklichsten und im Sinne ihrer Anstifter «erfolgreichsten» jener etwa einhundert Jahre. Bereits zwischen 1894 und 1896 wurden armenische Christen in größerem Ausmaß ermordet. Die Schätzungen gehen naturgemäß weit auseinander, aber die Zahlen von mindestens 80000 bis 300000 Getöteten sprechen für sich. Als sich die Pogrome über die Armenier hinaus auf Christen insgesamt ausweiteten, fielen auch die Assyrer den Aktionen zum Opfer; die Schätzungen belaufen sich auf bis zu 25000 Opfer. Im Jahre 1909 dienten wiederum armenische Christen als Zielscheiben der islamistischen Mord-Aktionen mit geschätzten 30000 Opfern.

      Die Kolonialtruppen des kaiserlichen Deutschlands eröffneten in den Jahren 1904/1905 die Reihe der Völkermorde des 20. Jahrhunderts mit der Vernichtung von etwa 80000 Angehörigen des Herero-Volkes und 10000 Angehörigen des Volks der Nama. Anschließend fand die unter der Bezeichnung «Völkermord an den Armeniern» bekannte umfangreichste «Säuberungsaktion» auf dem Gebiet der heutigen Türkei zwischen 1915 und 1917 statt, als mindestens 300000 bis möglicherweise 1,5 Millionen armenische Christen ermordet und vertrieben wurden; der Rest schrumpfte auf kaum 100000 Überlebende zusammen.1 Ein ähnliches Schicksal wurde den Aramäern und Pontosgriechen zuteil.

      Das Ausmaß des im Namen Deutschlands von den Nationalsozialisten und ihren Helfern weit über die Grenzen Deutschlands hinaus verursachten Holocausts mag im allergrößten Teil der deutschen Bevölkerung für viele Jahre und Jahrzehnte die Sehnsucht nach dem «reinen Volkskörper» erstickt haben. Da die Schuld an jener Katastrophe einzig bei deutschen Politikern, Teilen der kulturellen Elite Deutschlands und den ihnen ergebenen Bevölkerungsmassen liegt, sahen sich andere europäische und mehr noch nicht-europäische Staaten nicht veranlasst, ähnlich tiefgreifend umzudenken. Ethnische und religiös motivierte Morde und Vertreibungen hat es seitdem an vielen Orten gegeben. Sie sind heutzutage in aller Bewusstsein.

      Die Türkei bildet hier keine Ausnahme. Noch 1955 sahen sich Tausende von Griechen nach einem Pogrom mit 30 Todesopfern in Istanbul gezwungen, das Land zu verlassen. In der Nacht vom 6. zum 7. September 1955 erreichte die anti-griechische Stimmung ihren Höhepunkt. Vergleiche zur Reichspogromnacht in Deutschland im Jahre 1938 drängen sich auf. Nachdem in sorgfältiger Vorbereitung alle türkischen Geschäfte als solche markiert waren, konnte sich der Mob in einer im Nachhinein als türkische «Kristallnacht» bekannten Gewaltorgie an den Geschäften, Kirchen, Friedhöfen und Schulen der Griechen austoben – angestachelt durch eine Kampagne der Regierung, die den Griechen die Schuld an der angeblichen Schändung des Geburtshauses von Atatürk in Thessaloniki zuschob. Nicht nur die griechisch-orthodoxe Minderheit, auch die türkischen Juden und Armenier wurden zu Leidtragenden dieser Verbrechen.

      In den 1960er Jahren setzte sich die Vertreibung der Griechen fort, diesmal als angeblich Mitschuldige an der Zypernkrise. 1962 wurde der Gebrauch der griechischen Sprache auf der Straße verboten – eine Kulturgeschichte von 2000 Jahren fand so ein gewaltsames Ende. 1963 – auch hier bieten sich Vergleiche zur Vorgehensweise während der NS-Zeit an – folgte die Kampagne «Der Türke kauft beim Türken». Schilder mit der Aufschrift «Kauft nicht bei griechischen Händlern» lagen in den türkischen Geschäften aus. 1964 kündigte die türkische Regierung den Türkisch-Griechischen Freundschaftspakt und erzwang die Auswanderung von noch einmal etwa 50000 Griechen – jeder durfte 22 US-Dollar bei sich tragen. Auch hier werden Erinnerungen an Deutschland wach. Man erinnere sich: Die Höchstsumme, die die deutschen Juden bei der Auswanderung mitnehmen durften, belief sich auf 10 Reichsmark und 20 Kilogramm persönliches Gepäck. Die Vertriebenen erhielten keinen Zugriff auf ihre Bankkonten und durften ihre Immobilien nicht verkaufen. Das so in den Besitz des türkischen Staates gelangte Eigentum der Griechen wurde bis heute nicht restituiert.

      Der seinerzeit in der Türkei weitverbreitete Hass auf die Griechen speiste sich aus dem Versuch der Griechen, gegen Ende des Ersten Weltkriegs aus den Wirren des zerfallenden Osmanischen Reiches eigenen Nutzen zu ziehen. Die griechische Politik hatte bekanntlich bis 1917 abgewartet, auf wessen Seite sie in den Ersten Weltkrieg eintrete, und sich dann, als sich deutlich Sieger und Verlierer abzuzeichnen begannen, für die Entente entschieden, um die Gunst der Stunde wahrzunehmen und sich die Kontrolle über die mehrheitlich von Griechen bewohnten Regionen auf der kleinasiatischen Halbinsel zu sichern. Nach anfänglichen Erfolgen im Griechisch-Türkischen Krieg von 1919 bis 1920 erlitt Griechenland eine unerwartete Niederlage, nicht zuletzt auch deswegen, weil Italien seine eigenen Interessen durch die Ausdehnung Griechenlands auf das Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches beeinträchtigt sah und die Truppen Kemal Atatürks militärisch unterstützte.

      Es folgte ein Friedensschluss, der auf dem Prinzip ethnisch-religiöser Einheit in den Jahren 1922/1923 einen Bevölkerungsaustausch zwischen den beiden Staaten vorsah und zur Vertreibung von 1,2 Millionen Griechen aus der Türkei nach Griechenland, und in der Gegenrichtung zur Vertreibung von etwa 500000 muslimischen Türken aus griechischem Territorium in die Türkei führte. Der «Bevölkerungsaustausch» war begleitet von der Ermordung Zehntausender Griechen nach der Eroberung der von ihnen zuvor bewohnten Regionen durch die Türken, die alles daransetzten, die in einer von ihnen selbst durchgeführten Volkszählung von 1914 erwiesene griechische Bevölkerungsmehrheit auszulöschen.

      Der von Atatürk 1923 ausgerufenen Türkischen Republik fehlten folglich bereits zwei der drei großen Bevölkerungsgruppen, die der ethnisch-religiösen Einheit entgegenstanden. Es blieben noch die Kurden, die immerhin als Muslime ein gewisses Bleiberecht genossen. Sie erhielten freilich keine Rechte als ethnische Minderheit, sondern wurden in der türkischen Terminologie als «Bergtürken» gewissermaßen eingemeindet, natürlich unter dem Verbot, ihre eigene Sprache zu nutzen und ihre Kultur weiterzuleben. Eine vorsichtige Lockerung der türkischen Politik schien in jüngster Zeit erkennbar. Doch am 27. Juli 2015 rechtfertigte der türkische Staatspräsident die militärischen Angriffe auf Kurden-Stellungen im Nachbarland – unter Aufkündigung des bis dahin geltenden Waffenstillstands – allein mit der Begründung, die «Kurden untergraben die Einheit der Türkei».

      Eine ethnisch und weltanschaulich vielfältige Türkei ist für Recep Tayyip Erdoğan und seine Mitstreiter undenkbar. Es ist der den Entwicklungen in Deutschland entgegengesetzte Weg. Es wäre nicht überraschend, wenn die Argumente des Präsidenten in anderer Richtung am rechten Rand in Deutschland Anklang fänden. Die Weigerungen, wie es türkische Integrationsaktivistinnen mit Bedauern feststellen, immer größerer Anteile der hier lebenden Türken, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, lässt sich auch als ein «Untergraben der Einheit Deutschlands» bezeichnen. Freilich wird sich nur wer rückwärtsgewandt ist und es noch für gegeben hält, eine solche «Einheit» als politisches Ziel anzustreben, den Argumenten des türkischen Präsidenten öffnen können.

      Die Reinheit des nationalistisch-religiösen Selbstverständnisses der modernen Türkei baut auf diesen Grundlagen. Zwar hatte Atatürk die Republik als laizistischen Staat in der Verfassung definieren lassen, aber knapp 100 Jahre nach der Gründung dieser Republik ist

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