Wirksam werden im Kontakt. Mechtild Erpenbeck
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Eine volle Aufmerksamkeit hat also genau genommen immer vier Dimensionen:
•Das über meine Sinneskanäle unmittelbar im Außen Wahrnehmbare: Was sehe/höre/rieche/taste/schmecke ich hier und jetzt?
•Die Resonanz in meiner eigenen Innenwelt: Was löst das in mir aus?
•Die Fantasien und Hypothesen zur abwesenden Außenwelt des Gegenübers: Wie stelle ich mir das Erzählte szenisch vor?
•Die Fantasien und Hypothesen zum inneren Erleben meines Gegenübers: Was haben die berichteten Szenen in meinem Gegenüber ausgelöst? Welche Empfindungen, Fantasien, Bewertungen sind wohl für sie/ihn damit verbunden?
Diese Art von »freischwebender Aufmerksamkeit« ist ein zugewandter, der sprechenden Person ergebener, und gleichzeitig sehr freier, kreativer Akt. Ein Oszillieren zwischen dem Abtauchen in die fremde Innenwelt bzw. dem »Mitträumen«3 und einem bewussten Beobachten, Erklären, Einordnen. Eine innere Verfasstheit, die mir alles erlaubt, selbst die schrägsten Assoziationen – sofern ich sie bewusst als Fantasie bzw. Hypothese betrachten und gegebenenfalls als solche zur Verfügung stellen kann. Später auf unserer Reise werden wir an einigen Möglichkeiten vorbeikommen, wie sich solche Interventionen gestalten lassen. Zunächst einmal gilt es, diese Aufmerksamkeit als ein stetes Training für das Bewusstsein zu verstehen, dass es hier zwar um Wahr-Nehmung, nicht aber um Wahr-Heit geht. Also, um mit Gunther Schmidt zu sprechen: um »Wahr-Gebung«.
1.2 Staunen
Kleine Kinder können es: vor einem Menschen stehen – z. B. im Gang der U-Bahn –, regungslos, mit großen Augen, völlig entspannten Gesichtszügen und offenem Mund, selbstvergessen in der Betrachtung des Gegenübers. Keinerlei eigene Regung, nicht die Spur einer Reaktion, eines mimischen Kommentars, eines eigenen Affekts. Das pure Staunen. Diese Ur-Form des Schauens ist noch radikaler, geht noch tiefer als die oben beschriebene Art der Aufmerksamkeit, die ja zu eigener Aktivität anregt, zu Fantasien, Gedanken und Assoziationen. Das kindliche Staunen aber ist das vollständige In-sich-Aufnehmen des Anderen, des Fremden. Es ist, als wenn sich der eigene Innenraum einen stillen Moment lang ins Unendliche hinein dehnt, um der unbekannten Dimension eines anderen Universums Raum zu geben.
So pur, wie wir als Kind staunen konnten, so wird es als erwachsener Mensch wohl nie wieder werden. Nur noch selten erleben wir diesen Zustand vollständiger Versenkung. Es müssen schon erhabene Momente sein: ein Naturschauspiel, ein technisches Wunderwerk, ein überwältigendes Zeugnis für die kulturschaffende Kraft der Menschheit. Dann geschieht es einen Wimpernschlag lang doch: dass in uns nichts, aber auch gar nichts anderes ist als die Hingabe an das, was unsere Sinne wahrnehmen. Und da wir offenbar prinzipiell dazu in der Lage sind, müssten wir den Zugang zu der entsprechenden Ressource finden können. So scheint es doch durchaus möglich, sich auch bei kleineren Anlässen diesem inneren Zustand zu nähern – zum Beispiel in der Begegnung mit einem Menschen, der ins Coaching kommt.
Im Coachingdiskurs geistert allenthalben der Anspruch herum, man müsse im Umgang mit den Klienten eine »absichtslose« Haltung einnehmen. Dieser Begriff kann leicht irreführen. Es liegt ihm eine Verwechslung zugrunde: »Eine Absicht haben« muss nicht zwangsläufig gleichbedeutend sein mit »ein eigenes Ziel verfolgen« oder »eigene Interessen haben«. Das intentionale Handeln beginnt an einer ganz anderen Stelle: Sobald ich aktiv werde, etwas sage oder tue, habe ich zwangsläufig irgendeine Leitidee, die mich in der Wahl der Kommunikationsformen und Interventionen orientiert. Insofern habe ich durchaus eine »Absicht«. Und wenn es nur die dem Coaching ganz grundsätzlich innewohnende Absicht ist, Impulse zu setzen, die die Coachees beim Finden ihrer eigenen Lösung unterstützen. So ist es nicht nur unumgänglich, sondern auch notwendig, sich diese Metaabsicht im Bewusstsein zu halten.
Die einzigen Momente echter Absichtslosigkeit sind vielleicht die kurzen Momente des Staunens. Und damit ist auch etwas anderes als die systemisch-professionelle Grundhaltung gemeint, die beschriebenen Phänomene als anerkennenswerte Anpassungsleistungen zu verstehen. Das Staunen kommt sozusagen aus einem anderen inneren Raum.4 Es gibt vieles, worüber es sich im Coaching staunen lässt: zum Beispiel darüber, welch unerhörte Geschichten, Abenteuerromane und Psychothriller das Leben gerade für die Menschen geschrieben hat, die ganz und gar unscheinbar daherkommen. Ebenso in diesem Sinne erstaunlich ist immer wieder der opulente und nicht enden wollende Erfindungsreichtum, mit dem manch einer eine besonders lieb gewonnene Problemkonstruktion pflegt. Oder das Staunen gilt einfach der ungeheuren persönlichen Kraft, die jemand aufzubringen vermag, um in einer über die Maßen belastenden Situation zu verharren und zu überleben. Oder es ist die Geschwindigkeit, die Menschen entwickeln können, damit sie immer schneller sind als ihre eigene Angst. Oder ihre plötzlichen Entwicklungssprünge in vollkommen unvorhergesehene Richtungen. Die Liste der möglichen Anlässe zum Staunen lässt sich mühelos erweitern.
Momente des Staunens sind flüchtig und nicht planbar. Sie zeugen von einer tiefen Aufnahmebereitschaft. Wenn sie sich ergeben, bergen sie einen ganz speziellen Zauber, bieten eine unvergleichliche Möglichkeit, sich dem Gegenüber zu öffnen. Vor allem stützen sie auf die tiefste und nachhaltigste Weise eine wertungsfreie Haltung in der Begegnung. Denn wer staunt, kann nicht gleichzeitig ablehnen oder abwerten. Noch nicht einmal erklären und verstehen ist drin. In Momenten reinen Staunens sind wir im Wortsinn sprachlos und selbstvergessen.
Dies kann in unserer Arbeit eine sehr wertvolle Grundlage für alles darauf folgende Handeln sein: Ist er vorbei, der Moment des Staunens, folgt eine neugierige, vorsichtige Hinbewegung. So wie das Kleinkind in der U-Bahn nach langen Minuten stummen Staunens aus der Reglosigkeit »erwacht« und seine Hand z. B. nach den Dreadlocks seines Gegenübers ausstreckt. Eine behutsame und doch zielstrebige Geste. Der Anbeginn all dessen, was mit »Begegnung« gemeint ist. Alle Exploration beginnt mit dieser Urszene des Staunens. Aller Einsatz von Wissen und Können kommt danach.
1.3 Schweigen
Wer staunen kann, kann auch schweigen, so könnte man meinen. Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Denken wir einen Moment über das Schweigen im Verlauf einer Gesprächssituation nach. Je nach Kontext kann ein Schweigen die unterschiedlichsten Formen annehmen: Es kann sich um ein eisiges Schweigen handeln, ein einvernehmliches Schweigen, ein lauerndes, ein verbissenes, ein nachdenkliches Schweigen, ein Schweigen der Ratlosigkeit, der Trauer, der Scham. Immer aber ist es ein beredtes Schweigen. Schweigen ist Kommunikation. Es öffnet einen Raum, in dem in ganz besonderer Weise die Beziehung der beteiligten Personen zum Schwingen kommt. Erst wenn der Strom der Worte versiegt, wird spürbar, dass die Welt viel größer und mehrdeutiger ist, als die wohlgeformten Sätze zuvor glauben machten. Es entsteht eine Ahnung, dass vielleicht sogar alles bisher Gesagte den Blick nur vernebelt hat. So werden die entscheidenden Weichen für den Verlauf einer Begegnung nicht selten eher im Schweigen gestellt als im Reden.
Schweigen ist auch im Coaching die ungekrönte Königin der Interventionen. Und da es interaktionell hoch wirksam ist, erfordert es eine aufmerksame Beobachtung und einen bewussten Umgang – wie immer in erster Instanz mit sich selbst. Vor allem heißt Schweigen: