Der Stempelmörder. Torsten Schönberg

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Der Stempelmörder - Torsten Schönberg

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technischen Defekts aus einer Höhe von 60 Metern zu Boden und verstarb noch an der Unglücksstelle – vermutlich hatte ihn das aus der Bahn geworfen. Ich musste ihm das alles aus der Nase ziehen.

      Einer regelmäßigen Arbeit konnte er seitdem auch nicht mehr nachgehen. Es erinnerte ihn alles an seine Frau, sagte er mir neulich, an seine Wohnung, seine Eltern, seinen Sohn und seine Freunde. Er verließ die Heimat. Der gemeinsame Sohn war damals fünf Jahre alt und wuchs nach dem Todesfall bei Verwandten in einer Kärntner Pension auf. Ohne Arbeit konnte Georg nicht für ihn sorgen. Er wollte ihm eines Tages etwas Besseres bieten, und das versuchte er ausgerechnet über Piefke 5.

      Wir wohnten im vierten Stock, über uns gab es weitere zwei Stockwerke. Im Erdgeschoss befanden sich die Verwaltung des Heims, der Speisesaal, ein Lesezimmer und eine Bibliothek. Das Lesezimmer war in eine Raucher- und eine Nichtraucherabteilung unterteilt worden. Im Keller fand man einen Schuhputz- und Kleiderraum, einen Fahrradkeller, einen Gepäckraum sowie eine Flickschusterei und eine Ideenwerkstatt, wo die zweite Obdachlosenzeitung Wiens, »Der Penner«, ihr Zuhause hatte. Es gab ein Krankenzimmer mit einer Hausärztin und eine Desinfektionskammer zur Entlausung der neuen Heimbewohner. Zusätzlich zu Rasierzimmer und Waschraum wurde den Heimbewohnern eine Badeanlage mit 20 Brausen und zehn Wannen geboten. In jeder Etage konnte man sich für Selbstgespräche in ein Zimmer zurückziehen: einen nackten Raum mit Spiegeln an allen vier Wänden. Wir nannten es das »Holodeck für Arme«.

      Draußen auf dem Flur wurde es lauter. Samstag hatten wir unseren freien Tag, an dem wir Pause machten und das Ziel, ein guter Österreicher zu werden, aus den Augen verloren. Stimmengewirr. Schreie mischten sich mit wilden Diskussionen.

      Dann öffnete Reinhold Hubsi, unser Zimmernachbar, die Tür und schrie wild gestikulierend. »Mord! Kommt raus, der Greißler ist tot!«

      Georg und ich folgten unserem Nachbarn, ungewaschen und unrasiert. Vor uns eine Gruppe halb nackter Gestalten. Reinholds Unterhose hing auf Halbmast. Franz, der Heimleiter, stand in der Mitte des Raumes und schwieg. Ich erkannte mit müden Augen Josef, den Maler und Anstreicher, in seinem typischen Blaumann und Herbert, der Tag und Nacht mit seinem altmodischen Motorradhelm ohne Visier auf dem Kopf herumrannte.

      Herbert war eine ehrliche Haut. Ich lernte ihn im Waldviertel kennen, wo ich mit Georg geologische Untersuchungen durchgeführt hatte. Genau genommen sind wir damals auf der Flucht gewesen, denn wir von Piefke 5 durften die Stadtgrenzen nicht überschreiten. Wir übernachteten in einem heruntergekommenen Gasthof. Herbert war dort Stammgast und trank von früh bis spät, am liebsten roten Zweigelt. Eines Tages lud er sich nach Wien ein, und weil Franz eine Aufsicht für die Desinfektionskammer brauchte, ist Herbert einfach geblieben.

      Isabel und ihre Freundin Judith kamen ebenfalls aus ihrem Zimmer gerannt, beide elegant wie immer, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Isabel hatte schwarz gelocktes halblanges Haar und dunkelbraune Augen. Ihre ganze Erscheinung rief bei allen Männern des Wohnheims, und natürlich auch bei mir, sonderbare Reaktionen hervor. Ich sehnte mich nach ihr und sie sich nach mir, hoffte ich. Unsere Blicke trafen sich.

      »Ruhe!«, schrie Franz. »Ruhe, verdammt noch mal!« Die Gruppe schwieg. »Wer hat die Schweinerei entdeckt?«

      Herbert hob zögerlich den Arm. Mit dem blauen Helm sah er ziemlich bescheuert aus. »Gegen drei musste ich aufs Klo und machte einen Abstecher zur Desinfektion, weil ich meinen Zweigelt vergessen hatte. Da lag er vor mir, die Kehle durchgeschnitten. Überall Blut. Und diesen Stempel auf dem Rücken.« Er schüttelte den Helm mit dem lustigen »Ich liebe Österreich«-Aufkleber. »›Piefke 5‹, stand auf dem Stempel. Dann hab ich das Licht wieder ausgemacht und die Tür geschlossen.« Herbert hob die Flasche Zweigelt und nahm einen kräftigen Schluck.

      Die anderen Bewohner kicherten. Alkohol war eigentlich verboten. »Piefke 5? – Aha! Und warum bist du erst um vier zu mir gekommen?«, fragte Franz ein wenig unwirsch.

      »Er war doch tot. Warum der Stress?« Herbert grinste und die anderen nickten.

      Franz drückte Herbert einen Kugelschreiber und einen karierten Block in die Hand. »Ihr werdet jetzt alle ins Lesezimmer gehen und euren Namen auf den Block schreiben. Außerdem haltet ihr fest, was ihr nach dem Einchecken ab acht gestern Abend gemacht habt. Die Polizei wird gleich auftauchen. Keiner verlässt das Haus.« Dann ging er ins Erdgeschoss in sein Arbeitszimmer, um die anderen Heimbewohner über Lautsprecher zu wecken.

      *

      Es ertönten die ersten Takte von Beethovens Schicksalssymphonie, ein Räuspern und schließlich die Ansage: »Burschen, hört mal alle her! Heute Nacht kam ein Frischling zu Tode. Chefinspektor Paradeiser und Inspektor Stippschitz sind auf dem Weg. Wir treffen uns in genau fünf Minuten im Lesezimmer.« Dann ertönten wieder ein Räuspern und noch einmal Beethovens Fünfte.

      Georg gähnte. »Juri, lass uns wieder ins Bett gehen. Um neun müssen wir eh raus.«

      »Hast du nicht gehört, was Franz gesagt hat? Wir sollen ins Lesezimmer gehen und auf die Polizei warten.« Ich wollte auf keinen Fall negativ auffallen. Deutsche, die am Piefke-5-Programm teilnahmen, wurden ganz genau beobachtet, und beim kleinsten Delikt drohte die Ausweisung in die Heimat. So stand es vor einiger Zeit auf einem Wahlplakat: »Asylbetrug heißt Heimatflug«.

      Isabel und ich verabschiedeten uns mit einem langen Blick. Wir hatten nach unserer kurzen Affäre beschlossen, getrennte Wege zu gehen.

      Die Piefke-5-Leitung sah es nicht gern, wenn wir mit österreichischen Frauen Beziehungen eingingen. Wir beließen es dabei und trafen uns nur mehr zufällig hier und da, manchmal halfen wir dem Zufall ein wenig nach. Sie war sehr begehrt und genoss ihre Rolle als Henne unter Hähnen. Vielleicht wollte sie mich auch nur eifersüchtig machen. Ich war aber kein eifersüchtiger Mensch.

      Zurück im Zimmer hielt mir Georg das blutige Küchenmesser entgegen. »Mensch Juri, woher hast du den Stempel?« Er schloss die Tür, ging zur Kommode, öffnete eine Schublade und wühlte in meinen Unterhosen herum.

      »Was redest du für einen Blödsinn? Ich hab mit dieser Geschichte in der Desinfektionskammer nicht das Geringste zu tun! Das Blut stammt von mir. Ich habe das Messer in der Nacht aus der Küche im ersten Stock geholt. Du hast doch gesehen, wie ich zurückkam?«

      Georg schüttelte den Kopf. Kein Wunder, er war genauso besoffen wie ich.

      »Ich wollte Pizzareste zerkleinern und bin abgerutscht. Schau, meine Hand.« Zwischen Daumen und Zeigefinger klebte ein fettes Pflaster.

      »So viel Blut aus so einer kleinen Wunde?« Georg warf mir einen skeptischen Blick zu.

      »Ich war komplett besoffen und hab die Kontrolle über das Messer verloren. Aber warum sollte ich ›Piefke 5‹ auf den Rücken vom Karl stempeln? Hörst du mir überhaupt zu? Georg?«

      Er schnappte sich eine meiner Unterhosen, wischte damit das Blut ab und steckte meinen Liebestöter in seine Hosentasche. »Wenn du’s nicht warst, wer dann? Warum gerade Karl? Der war doch erst einen Tag im Heim. Ich versteh das nicht. Die Polizei wird das ganze Heim auseinandernehmen.« Während er redete, fuchtelte er mit dem Messer herum. Genau in diesem Moment kam Herbert zur Tür herein, sah Georgs Messerattacken und meine elegante Abwehrbewegung. Du musst wissen, dass es verboten war, Waffen im Zimmer zu haben – egal ob Pistolen oder große Küchenmesser. Franz duldete solche Spielchen nicht.

      »Habt ihr die Mordwaffe gefunden? Warum seid ihr nicht im Lesezimmer?«, fragte der Mann mit dem Helm.

      Georg warf das Messer zu meinen Unterhosen und schloss die Schublade. »Verschwinde! Das geht dich nichts an.«

      Wir gingen

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