Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales
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Читать онлайн книгу Vom letzten Tag ein Stück - Ute Bales страница 10
Obwohl ich mit unserer Gegend verwachsen war, so war es doch Bertram, der sich besser auskannte und den Dingen mehr auf den Grund ging. Als Kind war sein Vater häufig und bei jedem Wetter mit ihm durch die Natur gezogen, hatte ihm Tiere und Pflanzen gezeigt und von Leuten erzählt, die vor unserer Zeit die Gegend gerodet, urbar gemacht und aufgeforstet hatten. Er hatte ihm beigebracht, wie man mit Steinen Feuer macht, von welchen Früchten man essen kann und von welchen nicht, und wie es möglich ist, selbst winters im Freien zu überleben. Zu seiner Kommunion hatte er ein echtes Schweizer Fahrtenmesser mit der Gravur seiner Initialen bekommen: B.M. Er trug es immer bei sich, schnitzte Stöcke und Pfeifen, Pfeile und Bogen. Auch eine Schnur gehörte zu seiner Ausrüstung und ein geschmiedeter Eisenring. Ich habe vergessen, für was er ihn brauchte.
Im Gegensatz zu ihm hielt ich mich wenig draußen auf. Mir war schnell kalt und ich mochte vor allem die Winter nicht, den Schnee und das Eis und die Vistramlatzhosen aus blauem Kunstleder, die abwaschbar waren und in den Falten bröckelten. Der raue Wind trocknete meine Haut aus, besonders die Lippen, weswegen ich sie unentwegt mit Speichel befeuchten musste, was sie rissig machte und schmerzhaft war. Die Kälte färbte meine Wangen rot und meine Hände bläulich-lila, was ich hasste, weil ich damit auszusehen glaubte wie eine Fischverkäuferin. Außerdem litt ich unter häufigen Mandelentzündungen und einer ständig laufenden Nase, hatte Angst vor Blasenentzündungen, die regelmäßig auftraten, wenn ich mich in Monaten mit R auf eine Wiese setzte.
Bertram machte das Wetter nie etwas aus. Ich sehe ihn noch in seiner dünnen Leinenjacke bei minus 20 Grad auf dem Fahrrad heranwinken: »Komm, setz dich hinten drauf, wir fahren ein Stück!« Er nannte mich Stubenhockerin, wenn ich ablehnte.
Überhaupt war ich ängstlicher als er. Ich war schon ängstlich geboren. Bertram musste mir zehnmal sagen, wenn ich etwas gut gemacht hatte. Selbst dann glaubte ich es nicht. Meine Angst spürte ich oft bis in den Magen. »Wer Angst hat, ist unsicher«, erklärte mir Bertram.
Manchmal testete er mich. »Was glaubst du, wie lange kann ein Mensch auskommen, ohne zu trinken? Was machst du, wenn du draußen bist und mehrere Tage kein Wasser hast?« Ich meinte, es sei gut, eine Quelle zu suchen oder im Winter Schnee zu schmelzen und zu trinken, was Bertram nur mit Einschränkungen gelten ließ. »Und wenn du keine Quelle findest und der Schnee verdreckt ist?« Er ließ mich raten und gab schließlich selbst die Antwort: »Du musst Urin destillieren.« Wie das gehen sollte, zeigte er mir, als wir, wie oft an Sommerabenden, in seinem Garten ein Feuer entfachten und um die Glut hockten. Vor meinen Augen pinkelte er in eine Wasserflasche, kommentierte das damit, dass ich mir den Notfall vorstellen solle, schloss den Deckel der Flasche und hielt sie eine Weile über die Glut. Dann bohrte er mit dem Taschenmesser ein Loch in den Deckel und steckte einen Strohhalm in die Flüssigkeit. Über den Halm gelangte Wasserdampf dann in eine zweite Wasserflasche, was eine Weile dauerte und nur wenig Flüssiges hervorbrachte. Die zweite Flasche legte er ins Gras, ließ sie abkühlen und als die Temperatur stimmte, hielt er mir das Destillat entgegen: »Hier! Trink! Ist gereinigt!«, lachte er, setzte an und trank selbst.
Bertram konnte Dinge, für die ich ihn bewunderte. Es war mir ein Rätsel, wie er sich orientierte. War ich mit ihm im Wald, pfiff er manchmal seltsame Töne, woraufhin nach und nach Waldtiere auftauchten, aber schnell wieder verschwanden. Eine Stelle, an der ich nichts, aber rein gar nichts erkennen konnte außer Gestrüpp und geschwärzter Erde unter einer trockenen Erdschicht, entschlüsselte er als einstigen Kohlenmeiler.
Ich sehe Bertram noch vor mir, kurz nach seiner Kommunion. Er trug das neue Fahrtenmesser, das ihm sein Vater geschenkt hatte, an einem Lederriemen quer über der Schulter. Wir waren in den Kyllwald gegangen, wo wir die Rinden der Buchen nach Baumperlen absuchten, die wir Knubbel nannten. Sie waren schwierig zu finden, weil sie unscheinbar waren, fast unsichtbar, oft im Boden versteckt und mit Rinde und Moos bedeckt. Man musste sie säubern und schälen, was eine Prozedur war, die sich aber lohnte, weil so etwas wie Perlen entstanden, oft mit schöner Maserung, glatt und weich. Dass es Glücksbringer seien, sagte Bertram, vollgeladen mit der Energie des Baumes, an dem sie gewachsen waren.
Ein Eichelhäher protestierte gegen unser Vordringen, und selbst Bertram erschrak über den schrillen Ruf derart, dass wir uns davonmachten und in einen Teil des Waldes gerieten, in dem wir nie vorher gewesen waren. Ich stand ratlos zwischen den geraden Stämmen der Fichten, zeigte hierhin und dorthin, suchte nach Merkmalen am Weg, an die ich mich erinnern konnte, redete völlig ahnungslos etwas von Polarstern und Himmelsrichtungen.
Bertram inspizierte die Bäume. Als er zu einer Erklärung seines merkwürdigen Tuns ansetzte, meinte ich seinen Vater zu hören: »Keine Sorge. Wir finden wieder heim. Guck mal: Bei uns kommt der Wind meist aus Westen. Das sieht man an der Neigung der Bäume. Deshalb ist auch der Moosbewuchs auf der Wetterseite stärker – also da, wo Westen ist.« Wir standen vor einer Reihe einseitig bemooster Fichten. »Wenn du dich am Moos orientierst, also immer in die gleiche Richtung läufst, läufst du nicht im Kreis und kannst dich also nicht verirren. Unser Dorf liegt südlich.« So ganz verstand ich das nicht. Er aber kannte die Richtung, winkte mir und ich folgte ihm.
Kaum eine Viertelstunde später sahen wir die Kirchturmspitze.
Bertram war für den Notfall gewappnet. Er hätte draußen überleben können. Er zeigte mir, dass Baumschwämmchen hervorragende Grillanzünder sind. Er benutzte die Baumrinden als Teller, die Stöckchen als Gabel. Er rieb Spitzwegerich auf Insektenstiche und pinkelte über Wunden. Er wusste, wo Pfifferlinge wuchsen und Wolpern6.
Vielleicht lebt er gar nicht weit von hier, in einer Felsenhöhle, und ernährt sich von Beeren und Pilzen? Vielleicht lebt er in einem fernen Land ohne Zivilisation, irgendwo in den dichten Wäldern Südamerikas? Vielleicht als Lendenschurz tragender Nomade in der Amazonasregion? Vielleicht hat er sich den Sentinelesen auf einer der Andamaneninseln im warmen Golf von Bengalen angeschlossen? Erst kürzlich habe ich darüber gelesen.
Sicher ist er an einem anderen Ort, in einem anderen Land, in einem anderen Leben, über das ich nicht das Geringste weiß.
Was Bertram betrifft, hielt ich vieles für möglich.
Ich hätte sooo gerne gewusst, wo er war.
Am frühen Morgen streift mich der Rest eines Traums. Es ist Frühling. Die Erde beginnt wieder nach Erde zu riechen. Alles blüht und, wenn der Wind kommt, schneit es Blütenblätter. Die Blüten wirbeln durch die Luft, schimmern im Licht. Die Sonne blendet und der helle Himmel verschmilzt mit den transparenten Blüten.
Ich liege neben Bertram im Gras. Die Sonne wärmt sein Gesicht, den grauen Zopf, die tiefliegenden Augen. Er liegt mit im Nacken verschränkten Armen. Sein Atem ist ruhig und geht bald in einen tiefen gleichmäßigen Rhythmus über. Ich drehe mich auf die Seite, stütze den Kopf auf die Hand und betrachte seine blasse Haut, die Bartstoppeln, die feinen Härchen am Haaransatz, die lange, gerade Nase und die unterschiedlichen Augenbrauen. Unsere Beine berühren sich und ich spüre den Flaum seiner haarigen Waden. Ich hoffe darauf, dass er blinzelt, mich ansieht, mich umarmt, mich küsst. Aber wir liegen einfach nur da und Blüten rieseln auf uns herab.
13.