Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry
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Die Menschen fahren mit dem, was wir normales Leben nennen, unbeirrt fort, da es keine andere Art von Leben gibt. Bei der Morgenrasur sang mein Vater weiterhin Roses of Picardy, wobei Worte und Zeilen unvollständig blieben, weil er, während er die Klinge über sein markantes Gesicht führte, hier und da gern mal eine Stelle übersprang. Wenn ich unten die Augen schloss und lauschte, sah ich ihn im Kopf in einer Art mysteriösem Kino vor mir. Heldenhaft hielt er durch, ging mit seinem Hund und seinen Fallen aus dem Haus und lernte, dies zu seiner »ganz alltäglichen Aufgabe« zu machen. Wenn er von der Arbeit zurückkam, dann nicht immer zu den alten, geregelten Zeiten, jedoch bemühte er sich nach wie vor, mit dem Sligo Champion unter dem Arm hereinzukommen und sein neues Leben ins Reich der Normalität zu zwingen.
Aber zu jener Zeit konnte es durchaus vorkommen, dass er Artikel in der Zeitung las, die auf merkwürdige Weise mit ihm zu tun hatten, zumindest weiß ich von einem Fall, denn einmal hörte ich einen leisen Schreckenslaut und sah zu ihm, der ganz in die Zeitung vertieft war, auf. Mr Roddy war der Besitzer des Champion und ein Mann der sogenannten neuen Regierung. Daher wurde über alles, was den Bürgerkrieg betraf, mit nackten, schlichten Worten berichtet, mit Worten, die darum bemüht waren, Normalität und Stabilität zu suggerieren.
»Lieber Himmel«, sagte mein Vater, »sie haben die Burschen erschossen, die damals auf dem Friedhof waren.«
»Welche Burschen?«, fragte ich.
»Diese wilden jungen Kerle, die ihren ermordeten Freund angeschleppt hatten.«
»Einer von ihnen war sein Bruder«, sagte ich.
»Ja, Roseanne, sein Bruder. Hier stehen die Namen. Er hieß Lavelle, ist das nicht seltsam? William. Und der Bruder hieß John. Aber der ist entkommen, steht hier. Geflohen.«
»Ja«, sagte ich leicht beklommen, zugleich aber unerwartet froh. Es war, als höre man von Jesse James oder dergleichen. Man würde einem Vogelfreien nicht begegnen wollen, aber wenn er entkommt, gefällt es einem doch. John Lavelle waren wir natürlich begegnet.
»Er kommt von Inishkea. Einer der Inseln. The Mullet. Eine ganz abgelegene Gegend. Tiefstes Mayo. Kann sein, dass er da sicher ist, bei seinen Leuten.«
»Ich hoffe es.«
»Es ist ihnen bestimmt schwergefallen, solche Männer zu erschießen.«
Mein Vater sprach ohne Ironie. Voller Aufrichtigkeit. Es muss ihnen in der Tat sehr schwergefallen sein. Diese Burschen alle auf einmal abzuknallen oder sich vielleicht auch einen nach dem anderen vorzunehmen, wer wusste schon, wie diese Dinge vor sich gingen, und sie, wie man so sagt, ins Jenseits zu befördern. Wer weiß, was auf dem Berg geschehen war? In der Dunkelheit? Und nun waren sie selbst tot, zusammen mit Willie Lavelle von den Inishkeas.
Mein Vater sprach kein weiteres Wort. Wir blickten einan der auch nicht an, sondern starrten auf dieselbe Stelle im Kamin, wo sich ein kleiner Kohlenhügel ab mühte.
Aber das Schweigen, das auf meiner Mutter lag, war das abgründigste von allen. Sie hätte ebenso gut ein Unterwasserwesen sein können, oder genauer gesagt, wir beide hätten, wenn ich bei ihr war, Unterwasserwesen sein können, denn sie sprach nie, sondern bewegte sich nur langsam und grüblerisch wie eine schwimmende Kreatur.
Mein Vater versuchte unablässig, sie aufzumuntern, und erwies ihr so viel Aufmerksamkeit, wie er konnte. Sein Lohn für die neue Arbeit war gering, aber so gering er auch war, mein Vater hoffte, dass er ausreichte, besonders in diesen schweren, düsteren Jahren, als der Bürgerkrieg zu Ende war und das Land sich abstrampelte, um wieder auf die Beine zu kommen. Aber ich glaube, dass damals die ganze Welt von Katastrophen gepeinigt wurde, das große Rad der Geschichte drehte sich, doch nicht von Menschenhand, sondern von der Hand irgendeiner unerklärlichen Macht. Mein Vater gab seiner Frau, was er verdiente, in der Hoffnung, sie könne mit den paar Pfund wirtschaften und sie so einteilen, dass wir damit auskamen. Doch irgendetwas ebenso Unerklärliches wie die gewaltigen Mächte der Geschichte, aber von winzigen Ausmaßen, da es nur uns betraf, schien überhand zu nehmen, und oft hatten wir fast nichts Essbares im Haus. Zur Abendbrotzeit polterte meine Mutter in der Spülküche herum, als sei sie dabei, eine Mahlzeit vorzubereiten, kam dann aber wieder in unser kleines Wohnzimmer und setzte sich einfach hin. Mein Vater, nach der Arbeit geschrubbt und wieder einsatzbereit, eine ganze Nacht vor sich – denn Ratten werden am besten nachts aufgestöbert –, mein Vater und ich, wir schauten sie an, und langsam dämmerte uns die Erkenntnis, dass nichts auf den Tisch kommen würde. Dann schüttelte mein Vater langsam den Kopf und schnallte im Geist vielleicht seinen Gürtel enger, wagte aber kaum zu fragen, woran es denn fehle. Im Angesicht ihrer Nöte begannen wir zu verhungern!
Doch nichts konnte ihr Schweigen brechen. Weihnachten nahte, und mein Vater und ich schmiedeten ein Komplott, um etwas aufzutreiben, das ihr Freude machen würde. Ihm war ein Tuch aufgefallen, das in einem kleinen Laden nahe dem Café Cairo im Schaufenster lag, und jede Woche hielt er einen Halfpenny oder so zurück, um die erforderliche Summe zusammenzusparen, wie eine Maus, die Getreidekörner hortet. Sie dürfen nicht vergessen, dass meine Mutter sehr schön war, wenn vielleicht auch nicht mehr ganz so schön, nun da ihr Schweigen in dem düsteren dünnen Stoff, den sie sich über die Gesichtshaut gezogen zu haben schien, ein Echo gefunden hatte. Sie war wie ein Gemälde, dessen Firnis sich verdunkelt und die Schönheit des Werkes verbirgt. Als das Licht ihrer herrlichen grünen Augen erlosch, verschwand auch ein wesentlicher Teil ihrer selbst. Und doch glaube ich, dass ein Künstler mit ihrer Silhouette zufrieden gewesen wäre, falls sich in Sligo ein Künstler gefunden hätte, was ich bezweifle, wenn man mal von denen absieht, die die Porträts der Jacksons, der Middletons und der Pollexfens malten, der besseren Leute in der Stadt.
Am Heiligabend brauchte mein Vater nicht zu arbeiten, und voller Freude gingen wir zum Gottesdienst, den der Pfarrer, Mr Ellis, in seiner gepflegten alten Kirche abhielt. Meine Mutter begleitete uns stumm, in ihrem schäbigen Mantel schmal wie ein Mönch. Ich habe die Szene noch gut in Erinnerung, die kleine, von Kerzen beleuchtete Kirche und die dort versammelten protestantischen Gemeindemitglieder, arm, nicht ganz so arm und einigermaßen reich, die Männer in ihren dunklen Gabardinemänteln, die Frauen, wenn das Geld reichte, mit einem Hauch von Pelz um den Hals, größtenteils aber die düsteren grünen Farbtöne der damaligen Zeit. Das Licht der Kerzen drang überallhin, in die Gesichtsfalten meines Vaters, der neben mir saß, in die Steine der Kirche, in die Stimme des Pfarrers, der seine Worte im geheimnisvollen und aufwühlenden Englisch der Bibel sprach, durch mein Brustbein hindurch in mein junges Herz, wo es mich so heftig durchbohrte, dass ich aufschreien, etwas herausschreien wollte, das ich nicht sagen konnte. Ein Aufschrei gegen das Schicksal meines Vaters, gegen das Schweigen meiner Mutter, aber auch ein Aufschrei zum Lobpreis von etwas, nämlich der Schönheit meiner Mutter, die sich verflüchtigte, jedoch immer noch vorhanden war. Mir war, als wären meine Mutter und mein Vater meiner Obhut anvertraut und könnten einzig durch mein Handeln gerettet werden. Aus irgendeinem Grund erfüllte mich dieser Gedanke mit jäher Freude, was damals sehr selten vorkam, sodass mich, als die Gemeindemitglieder irgendeinen vergessenen Choral anstimmten, ein geradezu unheimliches Glücksgefühl durchflutete und ich in dem schimmernden Dunkel heftig zu weinen begann, dicke, heiße Tränen trügerischer Erleichterung.
Also