Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

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Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry

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es nicht. In ein paar Jahren werde ich das Rentenalter erreicht haben, und was dann? Ich werde sein wie ein Spatz ohne Garten.

      Wie auch immer, ich weiß, diese Gedanken entspringen aktueller Notwendigkeit. Zum ersten Mal nehme ich die Unverfrorenheit, ich glaube, das ist das richtige Wort, die Unverfrorenheit meines Berufsstandes wahr. Dieses Durch-die-Hintertür, o ja, diese Verschlagenheit. Und nun bin ich, in einem weiteren Anfall von Idiotie, entschlossen, nicht länger verschlagen zu sein. Die ganze Woche über habe ich mich mit bestimmten Patienten unterhalten, darunter einigen ganz außergewöhnlichen Menschen. Mir ist, als würde ich sie für einen bestimmten Zweck befragen, für ihre Ausweisung, ihren Ruin. Als müssten sie, falls sie Wohlbefinden bekunden, ins Exil der segensreichen »Allgemeinheit« verbannt werden. Mir ist durchaus bewusst, dass diese Art zu denken grundverkehrt ist, deswegen versuche ich ja auch, mir hier Luft zu machen. Ich müsste mich genau anders herum verhalten: mich unbeteiligt geben, distanziert, mir bei jeder Gelegenheit Mitgefühl versagen, denn Mitgefühl ist mein schwacher Punkt. Gestern war da ein Mann, ein Bauer aus Leitrim, der früher über vierhundert Morgen besessen hat. Er ist auf eine maßlose, vollendete Weise verrückt. Er erzählte mir, seine Familie sei so alt, dass sie sich über zweitausend Jahre zurückverfolgen lasse. Er selbst, sagte er mir, sei der Letzte seines Namens. Er habe keine Kinder, ganz gewiss keine Söhne, und sein Name werde mit ihm untergehen. Der Name, fürs Protokoll, war Meel, in der Tat ein sehr merkwürdiger Name, vielleicht leitet er sich von dem gälischen Wort für Honig ab, meinte er jedenfalls. Und er ist etwa siebzig, sehr würdevoll, kränklich und verrückt. Ja, er ist verrückt. Psychotisch, um genau zu sein. Und ich entnehme seiner Akte, dass er das Pech hatte, vor Jahren auf einem Schulhof aufgegriffen zu werden, wo er unter einer Bank Schutz gesucht hatte – mit drei toten Hunden, die er sich ans Bein gebunden hatte und die er überallhin mitschleppte. Aber als ich mit ihm sprach, empfand ich nichts als Liebe. Das war lächerlich. Und es ist mir zutiefst verdächtig.

      Oft kommen mir meine Patienten wie eine Herde Schafe vor, die einen Hügel hinabstürmen, direkt auf die Klippe zu. Ich müsste ein Schäfer sein, der alle Pfiffe kennt. Ich kenne keinen einzigen. Aber wir werden sehen.

      »Wir werden sehen, sagte die Ratte, als sie ihr Holzbein schüttelte.«

      Eins von Bets Sprichworten. Was bedeutet es? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist es eine Redewendung aus einer berühmten Kindheitsgeschichte, noch so eine berühmte irische Kindheitsgeschichte, die mir, der seine Kindheit in England verbracht hat, nichts sagt. Es ist verblüffend, Ire zu sein und über keine einzige dieser Eigenarten oder Erinnerungen zu verfügen, nicht einmal über einen verdammten Akzent. Niemand auf dieser Welt hat mich je mit einem Iren verwechselt, und doch bin ich, soviel ich weiß, genau das.

      Bet in ihrem Zimmer über mir war die ganze Woche mucksmäuschenstill, nicht einmal den BBC World Service hat sie gehört, wie sie es sonst immer tut. Meine Frau. Es war gespenstisch.

      Gestern Abend habe ich den Versuch eines Rapprochement unternommen – falls man das Wort so schreibt. Ich zweifle nicht daran, dass ich sie liebe. Warum nützt ihr dann meine sogenannte Liebe nichts, warum gefährdet sie sie sogar? Oh, als ich meinen letzten Eintrag hier überflog, in dem ich mir mehr oder weniger subtil Mitgefühl und Liebe bescheinige – als ich es las, drehte sich mir fast der Magen um –, da habe ich mich so über mich geärgert, dass ich in die Küche ging, wo ich sie gerade dieses schreckliche Zeug zubereiten hörte, das sie abends vor dem Schlafengehen trinkt. Das Stärkungsmittel Complan. Ein in jeder Hinsicht gespenstisches Getränk, das nach Tod schmeckt. Ich meine, Leben-im-Tod und Tod-im-Leben, Coleridge, wenn ich mich recht erinnere. Ballade vom alten Seemann. Wen kann ich am Ärmel packen, um ihm meine Geschichte zu erzählen? Früher war es Bet. Jetzt bin ich ärmellos. Und bin sicher, dass ich sie allzu oft am Ärmel gepackt, oder in meinen Worten: von ihrer Kraft gezehrt und ihr nichts zurückgegeben habe. Nun ja, vielleicht. Wir hatten großartige Tage miteinander. King und Queen des Kaffees am Morgen, im Dunkel des Winters, in der Frühsonne des Sommers, die zum Fenster hereinschien, um uns zu wecken. Ach ja, Kleinigkeiten. Kleinigkeiten, die wir geistige Gesundheit nennen oder den Stoff, aus dem Gesundheit ist. Damals machte mich das Gespräch mit ihr – nein, Gott bewahre mich vor Sentimentalität. Die Zeiten sind vorüber. Jetzt sind wir zwei fremde Länder, deren Botschaften sich lediglich im selben Haus befinden. Die Beziehungen verlaufen freundschaftlich, aber streng diplomatisch. Unterschwellig ahnt man Gerüchte, Vorurteile, Erinnerungen, wie zwei Völker, die in einer früheren Generation schwere Verbrechen gegeneinander verübt haben. Wir sind ein baltischer Splitterstaat. Nur dass sie mir, der Teufel soll sie holen, nie etwas angetan hat. Die Scheußlichkeiten kommen samt und sonders aus einer Richtung.

      Es war nicht meine Absicht, hier von alledem zu schreiben. Dies sollte eine zumindest halbwegs professionelle Schilderung der Dinge sein, der vielleicht letzten Tage eines unbedeutenden, vergessenen und doch unentbehrlichen Ortes. Des Ortes, an dem ich mein gesamtes Berufs leben verbracht habe. Des wunderlichen Tempels meiner Ambitionen. Ich fürchte mich davor, für die Insassen hier nichts bewirkt zu haben, sie mit zu viel Gefühl betrachtet und dadurch im Stich gelassen zu haben, ich fürchte dies ebenso sehr, wie ich sicher bin, dass ich Bets Leben ruiniert habe. Jenes »Leben«, jene ungeschriebene Geschichte ihrer selbst, die – ich weiß nicht. Ich hatte es nicht darauf angelegt. Ganz ehrlich, ich war stolz, stolz auf meine Treue zu ihr, auf meine Hochachtung vor ihr, meine regelrechte Verehrung für sie. Vielleicht war ich auch ihr gegenüber zu rührselig. Schädliche, chronische Gefühlsduselei. Verdammt, mein Stolz auf sie war mein Stolz auf mich selbst, und das war etwas Gutes. Solange sie eine gute Meinung von mir hatte, hatte ich die allerbeste Meinung von mir selbst. Davon zehrte ich, davon befeuert ging ich jeden Tag zur Arbeit. Wie wunderbar, wie kraftvoll – wie lächerlich. Aber ich würde alles in der Welt darum geben, diesen Zustand wiederzuerlangen. Ich weiß, es ist nicht möglich. Und dennoch. Wenn dieser Kosmos hier erst einmal niedergerissen ist, werden so viele kleine Geschichten mit ihm verschwinden. Im Grunde ist es beängstigend, vielleicht sogar grauenerregend.

      Ich ging also in die Küche. Inwiefern ich willkommen war, kann ich nicht sagen. Vermutlich nicht sehr, meine plötzliche Gegenwart musste wohl eher ertragen werden.

      Dabei rührte sie gar kein Complan an, vielmehr löste sie in einem Glas einige Tabletten auf, Aspirin oder dergleichen.

      »Fehlt dir was?«, fragte ich. »Hast du Kopfschmerzen?«

      »Mir geht’s ganz gut«, sagte sie.

      Ich weiß, dass sie im Januar vor einem Jahr einen kleinen Schreck bekommen hatte. Sie war beim Einkaufen auf der Straße ohnmächtig geworden, und man hatte sie nach Roscommon ins Krankenhaus gebracht. Sie musste den ganzen Tag dableiben und wurde untersucht, und am Abend rief mich ganz arglos einer der Ärzte an, ich solle sie abholen. Vermutlich glaubte er, ich wüsste, dass sie dort war. Ich war äußerst beunruhigt. Als ich den Wagen aus der Einfahrt setzte, hätte ich fast einen Unfall gebaut, fast den Pfeiler gerammt, ich fuhr wie ein Mann, der seine schwangere Frau nachts ins Krankenhaus bringt, wenn die legendären Wehen einsetzen, nicht, dass sie die je durchgemacht hätte, und vielleicht liegt da ja der Hund begraben.

      Jetzt starrte sie in ihr Glas.

      »Wie geht’s den Beinen?«, fragte ich.

      »Geschwollen«, antwortete sie. »Es ist nur Wasser. Heißt es. Ich wünschte, es würde weggehen.«

      »Ja, natürlich«, meinte ich, ein wenig ermutigt durch das Wort »weg«, weit weg im Sinne von Urlaub. »Hör mal, ich hab gedacht, vielleicht wär’s ganz schön, für ein paar Tage wegzufahren, wenn auf der Arbeit alles geregelt ist. Urlaub zu machen.«

      Sie sah mich an, schwenkte die schäumenden Tabletten im Glas, machte sich auf den bitteren Geschmack gefasst. Zu meinem Leidwesen muss ich berichten, dass sie lachte, es war nur ein kleiner Lacher, von dem ich vermute, dass sie ihn lieber nicht herausgelassen hätte, aber nun stand er zwischen uns, dieser eine Lacher.

      »Ich

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