Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry
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»Wissen Sie«, sagte er, »ich glaube Ihnen. Ich glaube, Sie sind der glücklichste Mensch, den ich kenne. Aber ich fürchte, ich werde Ihren Fall neu bewerten müssen, Roseanne, da es in den Zeitungen einen Aufschrei der Entrüstung gegeben hat über – darüber, dass Leute, die eher aus sozialen als aus medizinischen Gründen eingesperrt wurden, weiterhin, weiterhin –«
»Festgehalten werden?«
»Ja, ja, festgehalten werden. Und zwar bis auf den heutigen Tag festgehalten werden. Natürlich sind Sie seit vielen, vielen Jahren hier, ich vermute fast, es sind vielleicht schon fünfzig?«
»Ich weiß es nicht mehr, Dr. Grene. Mag wohl sein.«
»Möglicherweise betrachten Sie diese Anstalt ja auch als Ihr Zuhause.«
»Nein.«
»Nun, wie jeder andere haben Sie das Recht, frei zu sein, wenn Sie für … für die Freiheit taugen. Ich vermute, selbst mit einhundert Jahren möchten Sie vielleicht … möchten Sie vielleicht umherspazieren und im Sommer im Meer baden und die Rosen riechen –«
»Nein!«
Eigentlich wollte ich gar nicht schreien, aber wie Sie merken werden, ist der bloße Gedanke an derlei kleine Aktivitäten, die die meisten Menschen mit Behagen und Lebensglück verbinden, noch immer ein Messer in meinem Herzen.
»Verzeihung?«
»Nein, nein, bitte fahren Sie fort.«
»Wie auch immer, falls ich feststellen sollte, dass Sie ohne wirklichen Grund, sozusagen ohne medizinische Grundlage hier sind, müsste ich mich um eine andere Regelung bemühen. Ich möchte Sie nicht beunruhigen. Und ich habe nicht die Absicht, meine liebe Roseanne, Sie in die Kälte hinauszuschicken. Nein, nein, dies wäre eine sorgfältig abgestimmte Maßnahme und bedarf, wie gesagt, meiner vorherigen Neubewertung. Fragen, ich würde Sie befragen müssen – bis zu einem gewissen Grad.«
Ich war mir ihres Ursprungs nicht ganz sicher, aber in mir breitete sich ein Gefühl der Angst aus, so wie ich mir vorstelle, dass sich das Gift gespaltener Atome in den Menschen der Außenbezirke von Hiroshima ausgebreitet und sie ebenso sicher getötet hat wie die Explosion selbst. Angst wie eine Krankheit, die Erinnerung an eine Krankheit, zum ersten Mal seit vielen Jahren verspürte ich sie.
»Fehlt Ihnen etwas, Roseanne? Bitte regen Sie sich nicht auf.«
»Natürlich will ich meine Freiheit, Dr. Grene. Aber sie ängstigt mich auch.«
»Der Gewinn der Freiheit«, sagte Dr. Grene freundlich, »vollzieht sich stets in einer Atmosphäre der Ungewissheit. Wenigstens in diesem Land. Vielleicht in allen Ländern.«
»Mord«, sagte ich.
»Ja, manchmal«, sagte er sanft.
Dann schwiegen wir, und ich betrachtete das solide Rechteck aus Sonnenlicht im Zimmer. Dort hatte sich uralter Staub abgesetzt.
»Freiheit, Freiheit«, sagte er.
Irgendwo in seiner staubigen Stimme tönte undeutlich die Glocke der Sehnsucht. Ich weiß nichts von seinem Leben draußen, von seiner Familie. Hat er Frau und Kinder? Irgendeine Mrs Grene? Ich weiß es nicht. Oder doch? Er ist ein kluger Mann. Sieht aus wie ein Frettchen, aber das macht nichts. Jemand, der von den alten Griechen und Römern zu erzählen weiß, ist ein Mann ganz nach dem Herzen meines Vaters. Ich mag Dr. Grene, trotz seiner staubigen Verzweiflung, denn jedes Mal liefert er mir ein Echo der Redeweise meines Vaters, die sich aus Sir Thomas Browne und John Donne zusammensetzte.
»Nun, heute fangen wir nicht damit an. Nein, nein«, sagte er und erhob sich. »Ganz bestimmt nicht. Aber es ist meine Pflicht, Ihnen die Fakten vorzutragen.«
Und wieder durchquerte er mit einer Art unendlicher ärztlicher Geduld den Raum und ging zur Tür.
»Sie verdienen nichts anderes, Mrs McNulty.«
Ich nickte.
Mrs McNulty.
Immer wenn ich diesen Namen höre, muss ich an Toms Mutter denken. Auch ich war einmal eine Mrs McNulty, allerdings nie auf so überlegene Weise wie sie. Nie. Wie sie mir hundertfach deutlich machte. Außerdem, wieso habe ich meinen Namen seither immer als McNulty angegeben, wenn sich doch jedermann größte Mühe gab, mir den Namen wegzunehmen? Ich weiß es nicht.
»Vorige Woche war ich im Zoo«, sagte er plötzlich, »zusammen mit einem Freund und dessen Sohn. Ich war in Dublin, um ein paar Bücher für meine Frau abzuholen. Über Rosen. Der Sohn meines Freundes heißt William, was ja, wie Sie wissen, auch mein Name ist.«
Das wusste ich nicht!
»Wir kamen zum Giraffenhaus. William hatte große Freude an ihnen, zwei riesige, langhalsige Giraffendamen waren es, mit weichen, langen Beinen, sehr, sehr schöne Tiere. Ich glaube, ich habe noch nie so schöne Tiere gesehen.«
Dann bildete ich mir ein, in dem schimmernden Zimmer etwas Merkwürdiges zu sehen, eine Träne, die ihm in den Augenwinkel trat, über die Wange lief und rasch herabfiel, eine Art verborgenen, ganz intimen Weinens.
»So schöne Tiere, so schöne Tiere« sagte er.
Sein Gerede hatte mich in Schweigen gehüllt, ich weiß nicht, warum. Es war eben doch nicht das offene, unbeschwerte, frohe Gerede meines Vaters. Ich wollte ihm zuhören, ihm aber jetzt nicht antworten. Diese eigenartige Verantwortung, die wir anderen gegenüber verspüren, wenn sie reden: ihnen den Trost einer Antwort zu bieten. Wir armen Menschen! Außerdem hatte er mir gar keine Frage gestellt. Er schwebte lediglich dort im Zimmer, substanzlos, ein Mann mitten im Leben, der, noch auf den Beinen, unmerklich dahinstarb, wie wir alle.
VIERTES KAPITEL
Später kam John Kane in mein Zimmer geschlurft. Murrend schob er seinen Besen vor sich her, ein Mensch, den ich zu akzeptieren gelernt habe wie alle Dinge hier, die man, wenn man sie nicht ändern kann, ertragen muss.
Mit leisem Grauen bemerkte ich, dass sein Hosenstall offen stand. Seine Hose ist mit einer Reihe klobig aussehender Knöpfe verziert. Er ist ein kleiner Mann, zugleich aber ganz Muskeln und Manneskraft. Irgendetwas stimmt mit seiner Zunge nicht, weil er alle Augenblicke mit son der barer Mühsal schlucken muss. Sein Gesicht ist von einem Schleier dunkelblauer Äderchen überzogen, wie das Gesicht eines Soldaten, der beim Abfeuern einer Kanone zu dicht an die Mündung gekommen ist. In der Gerüchteküche der Anstalt genießt er einen schlechten Ruf.
»Ich verstehe nicht, wozu Sie all die Bücher brauchen, Missus, Sie haben doch gar keine Brille, um sie zu lesen.«
Dann schluckte er wieder, schluckte.
Ich kann auch ohne Brille sehr gut sehen, aber das verriet ich ihm nicht. Er bezog sich auf die drei Bände in meinem Besitz, die Ausgabe der Religio Medici meines Vaters, Der Jagdhund des Himmels und Mr Whitmans Grashalme.
Alle drei vergilbt und abgegriffen.
Doch ein Gespräch mit John Kane kann überallhin führen, wie die Gespräche mit Jungs, als ich noch ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren war, eine Schar von Jungs an unserer Straßenecke, die gleichmütig im Regen standen und