Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian Barry страница 12

Автор:
Серия:
Издательство:
Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry

Скачать книгу

sei Dank zeigte Father Gaunt schon bald sein hageres Gesicht an der Tür, und ich schnatterte drauflos und flehte ihn an, mitzukommen zu meinem Vater, er werde dort dringend gebraucht, und würde er kommen, würde er kommen?

      »Ich werde kommen«, sagte Father Gaunt, denn er war keiner von denen, die vor einem zurückscheuen, wenn man sie braucht, wie so viele seiner Amtsbrüder, die zu stolz sind, um den Regen in ihrem Mund zu schmecken. Und tatsächlich, als wir den Hügel hinaufgingen, schlug uns der Regen ins Gesicht, und bald glänzte die Vorderseite seines langen schwarzen Mantels vor Nässe, und ich auch, denn was mich betrifft, so hatte ich keinen Mantel an gezogen, sondern zeigte der Welt nur meine nassen Beine.

      »Welcher Mensch braucht mich denn?«, fragte der Priester misstrauisch, als ich ihn durch das Friedhofstor führte.

      »Der Mensch, der Sie braucht, ist tot«, antwortete ich.

      »Wenn er tot ist, wozu dann die große Eile, Roseanne?«

      »Der andere Mensch, der Sie braucht, lebt noch. Es ist sein Bruder, Hochwürden.«

      »Verstehe.«

      Auch die Grabsteine auf dem Friedhof glänzten vor Nässe, und auf den Wegen tanzte der Wind, sodass man nicht wusste, wo der Regen einen erwischen würde.

      Als wir zu dem kleinen Tempel gelangten und eintraten, hatte sich die Szene kaum verändert: als wären die vier Lebenden und ganz gewiss der Tote, als ich hinausging, eingefroren und hätten sich nicht von der Stelle gerührt. Als Father Gaunt eintrat, wandten ihm die irregulären Soldaten ihre jungen Gesichter zu.

      »Father Gaunt«, sagte mein Vater. »Es tut mir leid, dass Sie herkommen mussten. Die Burschen hier haben mich gebeten, Sie rufen zu lassen.«

      »Halten sie Sie etwa gefangen?«, erkundigte sich der Priester, erzürnt über den Anblick von Gewehren.

      »Nein, nein.«

      »Ich hoffe, Sie werden mich nicht erschießen«, sagte Father Gaunt.

      »In diesem Krieg ist noch kein Priester nich’ erschossen worden«, antwortete der Mann, den ich bei mir den dritten Mann nannte. »So schlimm es auch ist. Nur der arme Kerl hier ist erschossen worden, Johns Bruder Willie. Er ist mausetot.«

      »Ist er schon lange tot?«, fragte Father Gaunt. »Hat jemand ihm den letzten Atemzug genommen?«

      »Ich«, antwortete der Bruder.

      »Dann schenken Sie ihm seinen Atemzug jetzt wieder«, sagte Father Gaunt, »und ich werde ihn segnen. Und seine arme Seele zum Himmel auffahren lassen.«

      Also küsste der Bruder seinen Bruder auf den leblosen Mund und schenkte ihm den letzten Atemzug wieder, den er im Augenblick seines Todes eingeatmet hatte. Und Father Gaunt segnete ihn, beugte sich zu ihm und schlug das Zeichen des Kreuzes über ihm.

      »Können Sie ihn lossprechen, Hochwürden, damit er geläutert in den Himmel kommt?«

      »Hat er einen Mord begangen, hat er in diesem Krieg einen anderen Mann getötet?«

      »Im Krieg einen Mann zu töten ist kein Mord. Es ist nur der Krieg selbst.«

      »Mein Freund, Sie wissen sehr wohl, dass die Bischöfe uns verboten haben, euch loszusprechen, denn sie haben entschieden, dass euer Krieg unrecht ist. Aber ich will ihn lossprechen, wenn ihr mir versichert, dass er, soweit ihr wisst, keinen Mord begangen hat. Das will ich tun.«

      Da blickten die drei einander an. Auf ihren Gesichtern stand eine seltsam dunkle Furcht. Es waren junge Katholiken, und sie fürchteten sich vor diesem Priester, sie fürchteten sich davor, ihm eine Lüge aufzutischen, und sie fürchteten sich davor, in ihrer Pflicht zu versagen, ihrem Kameraden zum Himmel zu verhelfen, und ich bin sicher, dass sich jeder von ihnen auf der Suche nach einer wahrheitsgetreuen Antwort das Hirn zermartete, denn nur die Wahrheit würde den Toten ins Paradies befördern.

      »Nur die Wahrheit wird euch dienlich sein«, sagte der Priester, und ich zuckte zusammen, da seine Worte ein Echo meiner eigenen Gedanken waren. Es waren die schlichten Gedanken eines schlichten Mädchens, aber vielleicht ist der katholische Glaube in seinen Grundannahmen ja selbst schlicht.

      »Keiner von uns hat ihn irgendetwas Derartiges tun sehen«, sagte der Bruder schließlich. »Sonst würden wir’s sagen.«

      »Dann ist es ja gut«, sagte der Priester. »Und Sie haben mein aufrichtiges Beileid. Und es tut mir leid, dass ich fragen musste. Sehr leid.«

      Er trat dicht an den Toten heran und berührte ihn mit äußerster Behutsamkeit.

      »Ich spreche dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

      Und alle Anwesenden, mein Vater und ich eingeschlossen, sagten Amen dazu.

      FÜNFTES KAPITEL

       Dr. Grenes Aufzeichnungen

      Es wäre eine sehr gute Sache, wenn ich wenigstens manchmal davon überzeugt wäre, dass ich weiß, was ich tue.

      Ich habe das Gesundheitsministerium vollkommen unterschätzt, was ich, um aufrichtig zu sein, nie für möglich gehalten hätte. Man hat mir mitgeteilt, die Bauarbeiten vor Ort würden in Kürze beginnen, am anderen Ende von Roscommon, ein sehr guter Standort, wird mir versichert. Damit aber nicht alles nach guten Nachrichten klingt: Es wird dort nur eine sehr geringe Anzahl von Betten geben, dabei haben wir hier so viele. Tatsächlich gibt es hier Räume mit leeren Betten, nicht weil wir sie nicht füllen könnten, sondern weil die Räume jenseits von Gut und Böse sind, mit einsturzgefährdeten Zimmerdecken und grässlich feuchten Wänden. Alles, was Eisen ist, etwa die Bettgestelle, rostet dahin. All die neuen Betten in dem neuen Gebäude werden hochmodern sein, rostfrei, brandneu und schön, aber es werden weniger sein, sehr viel weniger. Also werden wir wie verrückt aussieben müssen.

      Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich versuche, mir anvertraute Geschöpfe zu verstoßen, die fern von mir nicht gedeihen werden. Das mag verständlich sein, zugleich aber bin ich mir selbst suspekt. Ich habe die wirklich idiotische Angewohnheit, meinen Patienten gegen über väterliche, ja sogar mütterliche Gefühle zu hegen. Nach all den Jahren, die, wie ich genau weiß, die Impulse und Instinkte anderer in diesem Bereich tätigen Menschen abtöten, bin ich noch immer geradezu eifersüchtig auf die Sicherheit, auf das Wohl meiner Patienten bedacht, selbst wenn ich an ihren Fortschritten allmählich zweifle. Aber ich bin misstrauisch. Ich frage mich, ob ich, nachdem ich bei meiner eigenen Frau versagt habe, dazu neige, diesen Ort als eine Art Eheschauplatz zu betrachten, an dem ich sündenfrei und unbescholten sein kann, ja, an dem ich (erbärmliches Verlangen) tagtäglich erlöst werde.

      Früher bezeichnete man gebrauchte Kleiderstoffe, die nichts mehr taugten, als »unrettbar«. Damals wurden die Anzüge für die Männer und die Kleider für die Frauen an Orten wie diesem aus Stoffspenden angefertigt, Erstere von einem Schneider, Letztere von einer Näherin. Bestimmt dachte man, für die armen Schlucker, die hier wohnten, sei selbst das, was eigentlich »unrettbar« war, immer noch gut genug. Jetzt, da ich wie jeder andere langsam mürbe werde, da ich in dem Stoff, aus dem ich gemacht bin, hier ein Loch finde und dort einen Riss, bin ich auf diesen Ort immer stärker angewiesen. Die Verantwortung für Menschen in tiefer Bedrängnis ist eine versöhnliche Arbeit. Vielleicht sollte ich frustrierter sein über die offensichtlichen Sackgassen

Скачать книгу