Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry
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Читать онлайн книгу Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian Barry страница 11
Die anderen drei Burschen kläfften und winselten fast hysterisch, was wiederum Hysterie in mir aufkeimen ließ. Mein Vater jedoch stand düster vor seinem Kamin, wie ein Mann, der sich anstrengt, geheimnisvoll zu wirken, das Gesicht so ausdruckslos wie möglich, aber wie ich fand, doch bereit, einem Gedanken nachzugehen und, falls erforderlich, dementsprechend zu handeln. Denn die drei Jungen waren mit alten Gewehren behängt, und ihre Taschen beulten sich von anderen Waffen, die sie vielleicht nach einem Scharmützel wahllos aufgelesen hatten. Ich wusste, Waffen waren die knappste Kriegswährung.
»Was habt ihr vor, Jungs?«, fragte mein Vater. »Es gibt bestimmte Regeln dafür, wie Leichen hier hereingebracht werden, wisst ihr, und ihr könnt nicht einfach aus heiterem Himmel einen Jungen hier abladen. Habt Erbarmen.«
»Mr Clear, Mr Clear«, sagte einer der Männer, ein Bursche mit ernstem Gesicht und mit der Läuse wegen kurz geschorenen Haaren, »wir konnten ihn nirgendwo anders hinbringen.«
»Sie kennen mich?«, fragte mein Vater.
»Ich kenne Sie gut genug. Jedenfalls weiß ich, wes Gottes Kind Sie sind, und die, die es wissen müssen, haben mir gesagt, dass Sie nicht gegen uns sind, anders als so mancher Narr hier in Sligo.«
»Das mag schon sein«, sagte mein Vater, »aber wer seid ihr? Seid ihr Freistaatler, oder gehört ihr zu den andern?«
»Sehen wir etwa aus wie Freistaatler, mit dem halben Bergmoor in den Haaren?«
»Nein, das nicht. Also, Jungs, was wollt ihr von mir? Wer ist der Kerl da?«
»Der arme Mann da«, antwortete derselbe Redner, »ist Willie Lavelle, und er war siebzehn Jahre alt und ist oben auf dem Berg umgebracht worden, von einem Haufen gemeiner, gedankenloser, schändlicher Schweinehunde, die sich Soldaten schimpfen, aber keine sind, und uns schlimmer behandeln als wie irgendein Black and Tan aus dem letzten Krieg. Jedenfalls genauso bös und übel. Denn wir waren so hoch oben auf dem Berg, dass uns bitterkalt war und wir Hunger hatten, und der Junge da hat sich ihnen ergeben, und wir haben uns im Heidekraut versteckt, aber die mussten ihn natürlich schlagen und treten und ihm Fragen stellen. Und gelacht haben sie, und einer hat dem Jungen die Pistole ins Gesicht gehalten, und er war der Tapferste von uns allen, aber bei allem gebotenen Respekt, Mädchen«, sagte er zu mir, »er hatte solchen Schiss, dass er sich in die Hosen gepinkelt hat, denn er wusste es genau, man weiß das immer, sagen die Leute, wenn jemand einen erschießen wird, Sir, und weil die meinten, niemand ist in der Nähe, niemand schaut zu, und niemand sieht ihre Schandtat, haben sie ihm drei Kugeln in den Bauch gejagt. Und sind fröhlich davongezogen, den Berg hinab. Bei Gott, wenn Willie beerdigt ist, nehmen wir ihre Spur auf, stimmt’s, Jungs? – und wenn wir sie finden, machen wir sie fertig.«
Dann tat der Mann etwas Unerwartetes, er brach in heftige Tränen aus, warf sich über den Leichnam seines gefallenen Kameraden und stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, wie man ihn weder davor noch danach je gehört hat, obwohl es doch ein kleiner Tempel des Schmerzes war.
»Sachte, John«, sagte einer der anderen. »Wir sind in der Stadt, auch wenn der Leichenacker hier dunkel und still ist.«
Aber der Erste fuhr fort zu jammern und lag auf der Brust des Toten wie – ich wollte schon sagen, wie ein Mädchen, aber so nun auch wieder nicht.
Auf jeden Fall war ich bis zum Kragen meiner Schulbluse von Entsetzen erfüllt, natürlich war ich das. Mein Vater hatte seine Gelassenheit verloren und ging zwischen dem Kamin und seinem Sessel mit den wenigen flachgedrückten alten Kissen aus ehemals rotem Stoff rasch auf und ab.
»Mister, Mister«, sagte der Dritte, ein aufgeschossener, magerer Bursche, der mir noch nie begegnet war und der mit seiner Hose, die ihm nicht einmal bis zu den Knöcheln reichte, aussah, als sei er geradewegs einem Berghof entsprungen. »Sie müssen ihn sofort beerdigen.«
»Ich kann einen Mann nicht ohne Priester beerdigen, ganz zu schweigen davon, dass ihr bestimmt keine Grabstelle gekauft habt.«
»Wie sollen wir Grabstellen kaufen, wenn wir für die Irische Republik kämpfen?«, fragte der erste Mann, der seine Tränen hinunterschluckte. »Ganz Irland ist unsere Grabstelle. Uns kann man überall verbuddeln. Denn wir sind Iren. Vielleicht verstehen Sie davon nichts.«
»Ich hoffe doch, dass auch ich Ire bin«, sagte mein Vater, und ich wusste, dass die Bemerkung ihn gekränkt hatte. In Wahrheit waren Presbyterianer in Sligo nicht sonderlich gelitten, ich weiß nicht recht den Grund dafür. Es sei denn, es war darauf zurückzuführen, dass in der Vergangenheit eine Menge Bekehrungsarbeit geleistet wurde, im Westen gab es eine presbyterianische Mission und dergleichen, die, selbst wenn ihr kein durchschlagender Erfolg beschieden war, der Gemeinde in Zeiten schrecklicher Hungersnot doch eine Anzahl Katholiken beschert und so unter den Leuten Angst gesät und Misstrauen geschürt hatte.
»Sie müssen ihn beerdigen«, sagte der dritte Mann. »Das da drüben auf dem Tisch ist Johns kleiner Bruder.«
»Das ist Ihr Bruder?«, fragte mein Vater.
Plötzlich war der Mann vollkommen reglos und still.
»Ja«, antwortete er.
»Das ist sehr traurig«, sagte mein Vater. »Das ist wirklich sehr traurig.«
»Und er hat keinen Priester gehabt, der ihn losspricht. Wäre es möglich, einen Priester für ihn zu rufen?«
»Der Priester hier ist Father Gaunt«, sagte mein Vater. »Ein guter Mann. Wenn ihr möchtet, kann ich Roseanne zu ihm schicken.«
»Aber sie darf ihm nichts verraten, nur dass er herkommen soll, und auf dem Weg darf sie mit niemandem reden, schon gar nicht mit irgendeinem Soldaten des Freistaats, denn wenn sie es tut, werden wir hier alle umgebracht. Sie werden uns ohne viel Federlesens umbringen, genauso wie Willie auf dem Berg, das steht fest. Ich würde Ihnen ja sagen, dass wir Sie umbringen, wenn sie redet, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir das wirklich fertigbrächten.«
Mein Vater sah ihn erstaunt an. Und es schien eine so ehrliche und höfliche Bemerkung, dass ich mir vornahm, mich an die Anweisung zu halten und mit niemandem zu reden.
»Außerdem haben wir gar keine Kugeln, weswegen wir uns wie die Hasen im Heidekraut versteckt und uns nicht gerührt haben. Ich wünschte, wir hätten uns gerührt, Jungs,« sagte der Bruder des Toten, »und hätten uns aufgerappelt und uns auf sie gestürzt, denn das ist keine Art, in der Welt zu sein: Willie tot und wir am Leben.«
Und er brach wieder zusammen und weinte erbarmungswürdig.
»Lasst man gut sein«, sagte mein Vater. »Ich werde Roseanne zu Father Gaunt schicken. Geh nur, Roseanne, tu, was ich dir sage, lauf zum Pfarrhaus und hol Father Gaunt, sei ein braves Mädchen.«
Also rannte ich hinaus auf den windigen, winterlichen Friedhof und durch die Alleen der Toten und hinaus auf die Kuppe der hügeligen Straße, die nach Sligo hin abfällt, eilte hinab und erreichte schließlich das Haus des Priesters, lief durch sein kleines Eisentor und den Kiesweg entlang und warf mich gegen seine massive Tür, die dunkelgrün gestrichen war wie das Blatt einer Schusterpalme. Nun, da ich mich von meinem Vater entfernt hatte, dachte ich nicht mehr an Brennscheren und Haare, sondern an sein Leben, denn ich wusste, dass die drei Überlebenden Gräuel