Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry
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Damals herrschte in Irland viel Hass. Ich war vierzehn, ein Mädchen, das versuchte, in die Welt hinauszublühen. Überall Wut und Hass.
Lieber Father Gaunt. So darf ich Sie doch anreden? Nie zuvor hat ein so rechtschaffener und ehrlicher Mann einem jungen Mädchen so viel Schmerz zugefügt. Denn ich glaube nicht einen Moment lang, dass er aus böser Absicht gehandelt hat. Und doch hat er mich kujoniert, wie die Landbevölkerung es nennt. Und in der Zeit davor hatte er meinen Vater kujoniert.
Ich habe schon gesagt, dass er ein kleiner Mann war. Damit meine ich, dass sein Scheitel den meinen nicht überragte. Geschäftig, hager und gepflegt mit seinen schwarzen Kleidern und seinem kurz geschorenen Haar wie ein zum Tode Verurteilter.
In meine Gedanken drängt sich die Frage: Was meint Dr. Grene damit, dass er meinen Fall neu bewerten muss? Damit ich hinausgehen kann in die Welt? Wo ist diese Welt?
Er muss mich befragen, hat er gesagt. Hat er. Da bin ich mir sicher, und doch höre ich ihn so richtig erst jetzt, da er schon lange aus dem Zimmer ist.
Die Panik in mir ist schwärzer als abgestandener Tee.
Ich bin wie mein Vater auf seinem alten Motorrad, der, na klar, in rasendem Tempo dahinjagt, sich aber so am Lenker festklammert, dass er eine Art Sicherheit genießt.
Lösen Sie bloß nicht meine Finger vom Lenker, Dr. Grene, ich flehe Sie an.
Fort aus meinen Gedanken, guter Doktor.
Father Gaunt, eilen Sie herbei aus den Schlupfwinkeln des Todes, eilen Sie herbei und nehmen Sie seinen Platz ein.
Stellen Sie sich vor mich hin, während ich krickele und krakele.
Der folgende Bericht mag sich anhören wie eine der Geschichten meines Vaters aus seinem kleinen Evangelium, aber diese hat er nie so richtig zum Vortrag gebracht oder so ausgeschmückt, dass sie sich wie zu einem Lied rundet. Ich liefere Ihnen sozusagen die bloßen Knochen, mehr habe ich nicht zu bieten.
Im Lauf dieses Krieges gab es zweifellos viele Todesfälle, und viele Todesfälle, die eigentlich nichts anderes waren als Mord. Natürlich oblag es meinem Vater, einige von diesen Toten auf seinem schmucken Friedhof beizusetzen.
Mit vierzehn war ich noch halb Kind und schon halb Frau. Ich besuchte eine kleine Klosterschule und war durchaus nicht gleichgültig gegenüber den Jungs, die nach dem Unterricht am Schultor vorüberschlurften, ja, ich scheine mich sogar daran zu erinnern, dass ich glaubte, von ihnen steige eine Art Musik auf, eine Art menschlichen Gesumms, das ich nicht begriff. Wie ich darauf kam, von so rohen Gestalten Musik aufsteigen zu hören, weiß ich aus dem Abstand dieser Jahre nicht mehr. Aber das ist nun mal die Zauberkunst der Mädchen: Sie verwandeln bloßen Lehm in große, klassische Ideen.
So schenkte ich also meinem Vater und seiner Welt nur halbe Aufmerksamkeit. Ich war mehr mit meinen eigenen Mysterien befasst, etwa mit der Frage, wie ich meinen grässlichen Haaren Locken einbrennen konnte. Viele, viele Stunden mühte ich mich mit dem Krageneisen meiner Mutter ab, mit dem sie immer das Sonntagshemd meines Vaters bügelte. Es war ein schlankes, schmales Gerät, das sich auf der Kaminplatte rasch erhitzte, und wenn ich meine glatten gelben Strähnen auf dem Tisch ausbreitete, hoffte ich, durch Alchimie Locken in sie hineinzaubern zu können. So war ich von den Ängsten und Ambitionen meines Alters völlig in Anspruch genommen.
Dennoch hielt ich mich oft im Tempel meines Vaters auf, erledigte meine Hausaufgaben und genoss das kleine Kohlenfeuer, das er dank seiner Brennstoffbeihilfe dort unterhalten konnte. Ich lernte meinen Unterrichtsstoff und hörte ihm zu, wie er »Im Traume sah ich mich im Marmorsaal« oder dergleichen sang. Und sorgte mich um mein Haar.
Was würde ich heute für ein paar Strähnen dieses glatten gelben Haares geben!
Mein Vater beerdigte jeden, der ihm zur Beerdigung übergeben wurde. In Friedenszeiten beerdigte er meist die Alten und die Siechen, doch in Zeiten des Krieges wurde ihm häufig der Leichnam eines jungen Burschen oder eines nur unwesentlich Älteren gebracht.
Dies bereitete ihm einen Kummer, den er sich bei den Alten und Schwachen nie anmerken ließ. Deren Tod, so dachte er, war unkompliziert und hatte seine Richtigkeit, und ob die Familienangehörigen und die Trauergäste am Grab nun weinten oder stumm blieben, er wusste, dass alle das Gefühl angemessener Lebensdauer und Gerechtigkeit hatten. Oft hatte er die alte Seele, die beigesetzt werden sollte, persönlich gekannt und teilte Erinnerungen und Anekdoten, wenn es ihm tröstlich und angemessen erschien. In diesen Fällen war er eine Art Diplomat des Leides.
Doch die Leichen der im Krieg Gefallenen betrübten ihn sehr, und zwar auf andere Weise. Man könnte meinen, als Presbyterianer sei ihm in der irischen Geschichte kein Platz vergönnt gewesen. Doch Rebellion, das verstand er. In einer Schublade in seinem Schlafzimmer verwahrte er ein Gedenkbuch an den Osteraufstand 1916 mit Fotos der wichtigsten Teilnehmer und einem Kalender der Kämpfe und Kümmernisse. Das einzig Schlimme, das der Aufstand für ihn beinhaltete, war dessen eigentümlich katholisches Ethos, von dem er sich natürlich ausgeschlossen fühlte.
Es war der Tod der jungen Männer, der ihn betrübte. Immerhin waren seit dem Gemetzel des Ersten Weltkriegs nur wenige Jahre vergangen. Von Sligo aus waren in den Jahren vor und nach dem Aufstand Hunderte von Männern losgezogen, um in Flandern zu kämpfen, und da die in diesem Krieg Gefallenen nicht zu Hause begraben werden konnten, waren diese Dutzende Männer gewissermaßen in meinem Vater begraben, im geheimen Friedhof seiner Gedanken. Jetzt, im Bürgerkrieg, noch mehr Tote, und immer die Jungen. Jedenfalls gab es in Sligo keinen Fünfzigjährigen, der im Bürgerkrieg gekämpft hatte.
Nicht, dass er dagegen gewettert hätte, er wusste ja, dass es in jeder Generation Kriege gab; er widmete sich diesen Dingen vielmehr auf eine eigentümlich professionelle Art, denn schließlich war er zum Hüter der Toten berufen, ein König des Nicht-mehr.
Father Gaunt selbst war noch jung, und man hätte erwartet, dass er sich den Gefallenen auf besondere Weise verbunden fühlte. Doch Father Gaunt war so glatt und gepflegt, dass menschliches Leid zu ihm gar nicht durchdrang. Er war wie ein Sänger, der zwar die Worte kennt und die Töne halten kann, aber unfähig ist, das Lied so zu singen, wie es im Herzen des Komponisten erdacht wurde. Meistens blieb er unberührt. Über Junge und Alte sprach er mit derselben trockenen Musik hinweg.
Aber ich will nichts gegen ihn sagen. In Ausübung seines Amtes ging er in Sligo überallhin, in der Stadt trat er in düstere Zimmer, in denen verarmte Junggesellen sich an Bohnen aus Dosen mästeten, und am Fluss in verlauste Hütten, die selbst wie alte, verhungernde Männer aussahen, mit verrottendem Stroh als Haar und kleinen, stieren, trüben, schwarzen Fenstern als Augen. Dort ging er hinein, bekanntlich ohne je einen Floh oder eine Laus wieder mit hinauszunehmen. Denn er war reiner als der Tagmond.
Und wenn man ihm in die Quere kam, war ein so kleiner, reiner Mann wie ein Sensenblatt; Gras, Dornengestrüpp und die Halme menschlicher Natur mähte er einfach nieder, wie mein Vater herausfinden sollte.
Es geschah folgendermaßen.
Eines Abends, als mein Vater und ich uns im Tempel die Zeit vertrieben, bis wir zum Abendessen nach Hause zurück kehren sollten, hörten wir draußen vor der alten Eisentür ein Schlurfen und Murmeln. Mein Vater sah mich an, wachsam wie ein Hund, bevor er anschlägt.
»Was ist denn das?«, fragte er, mehr sich selbst als mich.
Drei Männer kamen herein, die einen vierten trugen, und als würden sie von einer unsichtbaren Kraft