Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry
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»Ach«, sagte er, »ich bin müde vom Aufstieg, wir wollen erst unsere Blicke über Sligo wandern lassen, bevor wir unser Experiment in Angriff nehmen.«
Er hatte abgewartet und einen windstillen Tag für sein Vorhaben ausgewählt. Er wollte mir die uralte Prämisse beweisen, dass im Reich der Theorie alle Körper dieselbe Fallgeschwindigkeit haben.
»Alle Körper fallen gleich schnell«, hatte er gesagt, »im Reich der Theorie. Und ich werde es dir beweisen. Ich werde es mir selbst beweisen.«
Wir hatten vor dem knisternden Kohlenfeuer gesessen.
»Alle Körper mögen gleich schnell fallen, wie du sagst«, meldete sich meine Mutter aus ihrer Ecke des Zimmers zu Wort. »Aber nur selten steigt einer auf.«
Ich glaube nicht, dass dies eine Stichelei war, eher eine Feststellung. Jedenfalls blickte er mit jener vollkommenen Gemütsruhe zu ihr hinüber, die sie selbst so meisterlich beherrschte und die sie ihn gelehrt hatte.
Es kommt mir seltsam vor, dies alles hier in diesem dunkel gewordenen Zimmer aufzuschreiben, es mit blauer Kugelschreibertinte hinzukritzeln, die beiden vor meinem geistigen Auge oder irgendwo hinter den Augen, in der verdüsterten Schale meines Schädels, zu sehen, noch immer präsent, wahrhaft lebendig und gesprächig, als sei ihre Zeit die wahre Zeit und meine nur eine Illusion. Und zum tausendsten Mal rührt es mein Herz, zu sehen, wie schön sie ist, wie geschmackvoll, wie liebenswürdig und leuchtend, mit ihrem Southamptoner Akzent, der den Kieseln am Strand gleicht, wenn die Wellen sie hin und her rollen, ein weiches Rascheln und Rauschen, das in meinen Träumen nachklingt. Allerdings stimmt es auch, dass sie mich, wenn ich ungezogen war, wenn sie Sorge hatte, mein Pfad könnte von dem Pfad abweichen, den sie für mich ausersehen hatte, zu verprügeln pflegte, selbst bei nichtigen Anlässen. Aber damals war es eine Selbstverständlichkeit, Kinder zu schlagen.
Jetzt also rangelten unsere beiden Gesichter um den besten Platz, eingerahmt von dem alten Rahmen des kleinen Guckfensters der Mönche. Welche längst verschwundenen Gesichter hatten dort hinausgespäht, welche unter ihren Kapuzen schwitzenden Mönche hatten zu erkennen versucht, wo die Wikingerhorden waren, die kommen würden, sie zu morden und ihnen ihre Bücher, ihre Gefäße und ihre Münzen zu rauben? Kein Maurer überlässt den Wikingern gern ein großes Fenster, und jenes Fenster zeugte noch immer von alter Angst und Gefahr.
Nach einiger Zeit war klar, dass sich sein Experiment unmöglich durchführen ließ, solange wir alle beide dort standen. Einer von uns würde das Ergebnis verpassen. So schickte er mich allein über die feuchte steinerne Treppe nach unten, und noch heute kann ich das nasse Gemäuer unter meiner Hand spüren und das seltsame Entsetzen, von ihm getrennt zu sein, das mich erfasste. In meiner kleinen Brust schlug es so heftig, als sei eine furchtsame Taube darin gefangen.
Ich trat aus dem Turm und stellte mich, wie er mir aus Angst, die herabfallenden Hämmer könnten mich erschlagen, befohlen hatte, ein Stück vom Sockel entfernt auf. Von unten wirkte der Turm riesig, an jenem Tag schien er bis zu den schmutzig grauen Wolken aufzuragen. Bis in den Himmel. Kein Lüftchen regte sich. Die verwilderten Gräber dieses Friedhofsabschnitts, die Gräber von Männern und Frauen eines Jahrhunderts, als die Menschen sich nur unbehauene Steine leisten konnten, auf denen kein Name geschrieben stand, wirkten nun anders, da ich allein war, ganz anders, so als könnten sich die armen Gerippe gegen mich erheben und mich in ihrem ewigen Hunger verschlingen. Als ich so auf dem Rasen stand, fühlte ich mich wie ein Kind auf einer Felsenklippe, wie in jener Szene aus dem alten Stück König Lear, in der der Freund des Königs sich einbildet, von einem Felsvorsprung hinabzustürzen, obwohl dort gar kein Felsvorsprung ist. Wenn man es liest, glaubt man selbst daran, dass es einen solchen Felsvorsprung gibt, und stürzt zusammen mit dem Freund des Königs hinab. Aber pflichtgetreu, pflichtgetreu, liebevoll, liebevoll schaute ich hinauf. Es ist kein Verbrechen, den eigenen Vater zu lieben, es ist kein Verbrechen, keine Kritik an ihm üben zu wollen – und immerhin kannte ich ihn bis in die Anfangsjahre meines Frauseins, oder doch fast, in jenen Jahren also, wenn ein Mädchen dazu neigt, von seinen Eltern enttäuscht zu sein. Es ist kein Verbrechen, zu spüren, wie das eigene Herz ihm entgegenschlägt, oder doch dem biss chen, das ich von ihm sehen konnte, denn jetzt ragte sein Arm aus der kleinen Fensteröffnung, und der Sack hing in der irischen Luft. Jetzt rief er mir etwas zu, und ich konnte seine Worte kaum verstehen. Doch nach ein paar Anläufen glaubte ich ihn sagen zu hören:
»Hältst du auch genügend Abstand, liebstes Kind?«
»Ich halte genügend Abstand, Papa«, rief ich, ich schrie es fast, so weit mussten meine Worte nach oben steigen, und so klein war das Fenster, durch das sie hindurch mussten, um an seine Ohren zu dringen.
»Dann lass ich den Sack jetzt los. Pass auf, pass auf!«, rief er.
»Ja, Papa, ich passe auf!«
So gut er konnte, lockerte er mit den Fingern einer Hand die Öffnung des Sacks und schüttete den Inhalt aus. Ich hatte gesehen, was er hineingetan hatte. Eine Handvoll Federn aus dem Federkissen ihres Bettes, die er gegen den kreischenden Einspruch seiner Frau herausgerupft hatte, und zwei Maurerhämmer, die er verwahrte, um die Mäuerchen und Grabsteine der Gräber instand zu setzen.
Unverwandt starrte ich hinauf. Vielleicht hörte ich ja eine wundersame Musik. Das Kja-kja der Dohlen und das Rrrah-rrrah der Saatkrähen in den großen Buchen dort vereinte sich in meinem Kopf zu einer Melodie. Ich verrenkte mir den Hals, so gespannt war ich, das Ergebnis dieses eleganten Experiments zu beobachten, ein Ergebnis, das mir meinem Vater zufolge im Leben noch gute Dienste erweisen würde: als Grundlage einer eigenständigen Philosophie.
Obwohl nicht der leiseste Windhauch ging, schwebten die Federn sogleich davon, verstreuten sich wie bei einer kleinen Explosion, stoben sogar grau zu den grauen Wolken auf und waren fast nicht mehr zu sehen. Die Federn schwebten, schwebten davon.
Vom Turm rief mein Vater, rief in hellster Aufregung: »Was siehst du, was siehst du?«
Was sah ich, was wusste ich? Manchmal glaube ich, es ist der Hang zur Lächerlichkeit bei einem Menschen, zu einer womöglich aus Verzweiflung geborenen Lächerlichkeit, wie sie auch Eneas McNulty – noch wissen Sie nicht, wer das ist – so viele Jahre später an den Tag legen sollte, der einen mit Liebe zu diesem Menschen geradezu durchbohrt. Das alles: nicht wissen, nicht sehen, ist Liebe. Für immer stehe ich dort, verrenke mir den Hals, um zu sehen, spähe und recke meinen steifen Nacken, und sei es aus keinem anderen Grund als aus Liebe zu ihm. Die Federn schweben davon, schweben und wirbeln davon. Mein Vater ruft und ruft. Mein Herz schlägt ihm entgegen. Die Hämmer fallen noch immer.
DRITTES KAPITEL
Liebe Leserin, lieber Leser! Wenn Sie sanft- und gutmütig sind, wünschte ich, ich könnte Ihnen die Hand drücken. Ich wünsche mir – allerlei Unmögliches. Doch auch wenn ich Sie nicht um mich habe, so habe ich doch andere Dinge. Es gibt Augenblicke, da ich von einer unerklärlichen Freude durchdrungen bin, als besäße ich, indem ich gar nichts besitze, die ganze Welt. Als hätte ich, indem ich bis in diesen Raum vorgedrungen bin, das Vorzimmer zum Paradies gefunden, und bald wird es sich mir öffnen, und ich werde ins Paradies eingehen wie eine Frau, die für ihre Schmerzen entschädigt wird, eingehen in diese grünen Wiesen und hingeschmiegten Gehöfte. So grün, dass das Gras geradezu leuchtet!
Heute Morgen kam Dr. Grene herein, und hastig musste ich meine Blätter zusammenraffen und verstecken. Denn ich wollte nicht, dass er sie sieht oder mich ausfragt, denn dies hier enthält bereits Geheimnisse, und meine Geheimnisse sind mein Glück und mein Heil. Gottlob hörte ich ihn schon von weitem den Gang entlangkommen, denn er hat Eisenbeschläge unter den Absätzen. Gottlob leide