Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry
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Das Glücksgefühl meines Vaters. Es war an sich schon ein kostbares Geschenk, so wie vielleicht die Ängstlichkeit meiner Mutter der Knüppel war, der ihr andauernd zwischen die Beine geworfen wurde. Denn meine Mutter erfand niemals kleine Legenden über ihr Leben und kam ganz und gar ohne Geschichten aus, obwohl ich mir sicher bin, dass sie ebenso viele interessante Dinge zu erzählen gehabt hätte wie mein Vater.
Es ist schon seltsam, aber mir fällt auf, dass Menschen ohne Anekdoten, die sie zu ihren Lebzeiten nähren und die sie nach ihrem Tod überdauern, nicht nur der Geschichte, sondern auch den nachfolgenden Generationen eher abhanden kommen. Natürlich ist dies das Los der meisten Menschenseelen: Ganze Leben, ganz gleich, wie intensiv und wunderbar, schrumpfen auf jene traurigen schwarzen Namen in welken Familienstammbäumen zusam men, hinter denen nur ein halbes Datum und ein Fragezeichen baumeln.
Das Glücksgefühl meines Vaters rettete ihn nicht nur, sondern trieb ihn zu Geschichten an und erhält ihn selbst jetzt noch in mir am Leben, wie eine zweite, geduldigere und anziehendere Seele in meiner armen Seele.
Vielleicht war sein Glücksgefühl ja durchaus unbegründet. Aber darf sich ein Mensch in den langen, sonderbaren Läuften seines Lebens nicht, so gut es geht, selbst glücklich machen? Ich halte das für legitim. Schließlich ist die Welt ja wirklich wunderschön, und wenn wir keine Menschen wären, sondern andere Geschöpfe, so könnten wir sehr wohl dauerhaft glücklich in ihr sein.
Das wichtigste, ohnehin schon enge Zimmer in unserem kleinen Haus teilten wir mit zwei großen Gegenständen. Einer davon war das bereits erwähnte Motorrad, das bei Regen untergestellt werden musste. Es führte in unserem Wohnzimmer ein ruhiges Leben, könnte man sagen. Von seinem Sessel aus konnte mein Vater, wann immer er wollte, müßig ein weiches Ledertuch über das Chrom gleiten lassen. Der andere Gegenstand, den ich erwähnen möchte, ist das Pianino, das ihm ein dankbarer Witwer vermacht hatte, da mein Vater für die Frau dieses Mannes eine Grube ausgehoben hatte, ohne Gebühren zu verlangen, denn die Hinterbliebenen waren in Not geraten. So war das Pianino in einer Sommernacht bald nach der Beerdigung auf einem Eselskarren eingetroffen, von dem Witwer und seinen beiden Söhnen unter verlegen frohem Lächeln hereingetragen und in unserem winzigen Zimmer aufgestellt worden. Vermutlich war es nie viel wert gewesen, trotzdem hatte es einen wunderschönen Klang und war, bevor es zu uns kam, noch nie gespielt worden, sofern sich seine Vorgeschichte am Zustand der Tasten ablesen ließ, die völlig unberührt aussahen. An den Seitenwänden waren Landschaftsszenen aufgemalt, nicht aus Sligo, vermutlich eher Szenen aus einem imaginären Italien oder dergleichen, aber im Grunde lief es auf das Gleiche hinaus: Berge und Flüsse mit Schäfern und Schäferinnen, die mit ihren geduldigen Schafen umherstanden. Mein Vater nun, der im Pfarramt seines Vaters aufgewachsen war, konnte dieses prächtige Instrument spielen und fand, wie bereits gesagt, Vergnügen an den alten Operetten des vorigen Jahrhunderts. Balfe hielt er für ein Genie. Da es neben ihm auf dem Hocker Platz für mich gab, begann ich aus Liebe zu ihm und aus großer Freude an seiner Spielfertigkeit alsbald die Anfangsgründe des Klavierspiels zu erlernen und erlangte allmählich eine gewisse Fertigkeit, ohne je das Gefühl von Mühe oder Last empfunden zu haben.
Dann konnte ich ihn begleiten, und er pflanzte sich mitten im Raum auf, sofern man noch davon sprechen konnte, die eine Hand müßig und wie zufällig auf dem Sitz seines Motorrads, die andere in seinem Jackett wie ein irischer Napoleon, und sang, für mich hörte es sich jedenfalls so an, mit größter Vollkommenheit »Im Traume sah ich mich im Marmorsaal« oder andere Glanzstücke seines Repertoires, und übrigens auch jene kleinen neapolitanischen Lieder, die natürlich nicht, wie ich mir einbildete, zum Gedenken an Napoleon, sondern in den Straßen von Neapel entstanden waren – Lieder, die sich jetzt in Sligo im Exil befanden! Seine Stimme drang wie eine Art Honig in meinen Kopf, der mächtig summend nachwirkte und alle Ängste der Kindheit bannte. Hob sich seine Stimme, so hob sich zugleich sein ganzer Körper: Arme, Schnurrbartenden, ein Fuß, der ein kleines bisschen über dem alten Teppich mit seinem vielfachen Hundemuster pendelte, und seine Augen waren erfüllt von einer seltsamen Fröhlichkeit. Selbst Napoleon mit seinen hohen Ansprüchen hätte ihn nicht verachtet. In solchen Augenblicken entfaltete er in den ruhigeren Passagen der Lieder ein herrliches Timbre, das ich bis heute nicht überboten gehört habe. Als ich eine junge Frau war, machten sich viele herausragende Sänger auf den Weg nach Sligo und sangen in den Sälen unter dem Regen, und bei einigen der volkstümlicheren Lieder begleitete ich sie sogar auf dem Klavier und klimperte Töne und Akkorde für sie, vielleicht eher Hindernis als Hilfe. Doch in meinen Ohren reichte keiner von ihnen an die Stimme meines Vaters und deren eigentümliche Intimität heran.
Und ein Mann, der angesichts drohender Katastrophen, wie sie so oft ohne jede Gnade oder Gunst über uns hereinbrechen, fröhlich gestimmt sein kann, ist ein wahrer Held.
ZWEITES KAPITEL
Dr. Grenes Aufzeichnungen
(Leitender Psychiater, Roscommon Regional Mental Hospital)
Dieses Gebäude ist in einem schrecklichen Zustand, wie schrecklich, konnten wir so richtig erst dem Bericht der Bauaufsicht entnehmen. Die drei mutigen Männer, die unter das uralte Dach kletterten, berichten, dass viele Dachbalken kurz vor dem Einsturz stehen, als spiegelten Haupt und Glieder der Institution die Verfassung vieler der armen Insassen darunter wider. Statt Insassen sollte ich schreiben: Patienten. Da das Gebäude jedoch Ende des achtzehnten Jahrhunderts als mildtätige Einrichtung, als »Heilstätte für die überlegene Behandlung kranker Sitze der Gedanken« errichtet wurde, kommt einem stets das Wort »Insassen« in den Sinn. Wie heilsam und wie überlegen, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts herrschte dank der revolutionären Ideen verschiedener Ärzte in den Irrenanstalten tatsächlich eine Periode wirklicher Aufklärung: Zwangsjacken kamen nur selten zum Einsatz, gute Ernährung wurde für ratsam erachtet, ebenso viel Bewegung und geistige Anregung. Was ein großer Fortschritt gegenüber den Praktiken von Bedlam war, wo brüllende Bestien am Boden festgekettet waren. Danach wendeten sich die Dinge wieder zum Schlechteren, und kein feinfühliger Mensch würde freiwillig Historiker der irischen Irrenanstalten zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts sein wollen, mit ihren Klitoridektomien, Tauchbädern und Einläufen. Das vergangene Jahrhundert ist »mein« Jahrhundert, da ich zur Jahrhundertwende siebenundfünfzig war und es schwerfällt, in diesem Alter einem neuen Jahrhundert noch sein Herz und seine Aufmerksamkeit zu schenken. Fand ich jedenfalls. Und finde es noch immer. Leider bin ich nun schon fast fünfundsechzig.
Da das Gebäude sein Alter so zwingend unter Beweis stellt, werden wir es räumen müssen. Im Ministerium heißt es, mit dem Neubau werde so gut wie unverzüglich begonnen. Das mag zutreffen oder eine leere Phrase sein. Aber wie sollen wir in unserer Arbeit fortfahren, bis uns der Neubau wirklich zur Verfügung steht, philosophisch gefragt: Wie können wir eine Vielzahl von Patienten, deren DNA sich höchstwahrscheinlich längst mit dem Mörtel des Gebäudes vermischt hat, hier herauslösen? Im Haupttrakt sind fünfzig steinalte Frauen untergebracht, so alt, dass ihr Alter etwas Ewiges, etwas Fortdauerndes hat, und so bettlägerig und wund gelegen, dass es etwas Gewalttätiges hätte, sie an einen anderen Ort zu schaffen.
Vermutlich sträube ich mich innerlich gegen die Vorstellung auszuziehen, so wie jeder vernünftige Mensch es tut, wenn ein Umzug erwogen wird. Zweifellos werden wir ihn mit dem üblichen Chaos und Trauma bewerkstelligen.
Auch die Wärter und Pfleger sind längst Bestandteil des Gebäudes, wie die Fledermäuse unter dem Dach und die Ratten in den Kellern. Und von beiden gibt es, wie ich höre, eine Unzahl, auch wenn ich die Ratten Gott sei Dank nur ein einziges Mal gesehen habe, nämlich als der Ostflügel in Brand geriet und ich die schwarzen Schatten zu den unteren Türen hinaus und durch die Hecken in die Getreidefelder des Bauern flitzen sah. Als sie flohen, warf der Feuerschein eine seltsame Orangenmarmeladenfarbe auf ihren Rücken. Ich bin überzeugt, dass sie