Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry
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Diese Notwendigkeit wird mich vor eine Aufgabe stellen, der ich lange aus dem Weg gegangen bin, nämlich herauszufinden, welche Umstände einige der Patienten hierhergeführt haben und ob sie tatsächlich, wie es in einigen tragischen Fällen zutraf, eher aus sozialen als aus medizinischen Gründen eingewiesen wurden. Denn ein so großer Narr bin ich nicht, zu glauben, dass alle »Irren« hier drin wirklich verrückt sind oder es waren, bevor sie hierherkamen und von einer Art viraler Verrücktheit erfasst wurden. In der allwissenden breiten Öffentlichkeit, oder sagen wir: in der öffentlichen Meinung, wie sie sich in den Zeitungen niederschlägt, gelten diese Menschen als »freiheitswürdig« oder »entlassungswürdig«. Was durchaus zutreffen mag, doch Kreaturen, die so lange im Zwinger gehalten und eingesperrt wurden, empfinden Freiheit und Entlassung als äußerst fragwürdige Errungenschaften, so wie die osteuropäischen Länder nach dem Kommunismus. Und auf gleiche Weise spüre ich in mir einen sonderbaren Widerwillen dagegen, irgendjemanden gehen zu sehen. Woher kommt das? Ist es die Besorgnis des Zoowärters? Werden sich meine Polarbären auch am Pol zurechtfinden? Vermutlich greift dieser Gedanke zu kurz. Nun ja, wir werden sehen.
Insbesondere meine alte Freundin Mrs McNulty werde ich ansprechen müssen, die nicht nur die älteste Person an diesem Ort, sondern in Roscommon, vielleicht sogar in Irland ist. Betagt war sie schon vor dreißig Jahren, als sie hierherkam, obwohl sie damals die elementare Kraft einer – ich weiß nicht, einer Naturgewalt besaß. Sie ist ein bemerkenswerter Mensch, und obwohl lange Zeiträume verstrichen sind, in denen ich sie nicht oder nur flüchtig zu Gesicht bekommen habe, bin ich mir ihrer stets bewusst und vergesse nicht, mich nach ihr zu erkundigen. Ich fürchte, sie ist eine Art Prüfstein für mich. Sie gehört zum lebenden Inventar und repräsentiert nicht nur die Anstalt, sondern auf eigentümliche Art auch meine eigene Geschichte, mein eigenes Leben, »ist Leitstern, der verirrte Schiffe lenkt«, wie Shakespeare es nennt. Meine Eheprobleme mit der armen Bet, meine gedrückte Stimmung, mein mitunter sinkender Mut, mein Gefühl, nicht voranzukommen, mein dies, mein das – meine Dummheit im Umgang mit Menschen vermutlich. Während die Verhältnisse sich unausweichlich verändert haben, ist sie sich gleich geblieben, auch wenn sie natürlich im Lauf der Jahre schwächer und schmächtiger geworden ist. Ist sie inzwischen hundert? Unten im Aufenthaltsraum hat sie immer Klavier gespielt, ziemlich gekonnt, Lieder und Jazzmelodien der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Ich weiß nicht, wo sie die aufgeschnappt hat. Sie hat immer in einem dieser schrecklichen Krankenhauskittel dagesessen, aber ausgesehen hat sie wie eine Königin, mit ihrem langen silbernen Haar, das ihr offen auf den Rücken fiel, und ihrem eindrucksvollen Gesicht, obwohl sie damals bereits siebzig war. Eigentlich war sie noch immer sehr schön, und weiß Gott, wie sie ausgesehen haben muss, als sie noch jung war. Aus dem Rahmen fallend, die Verkörperung von etwas Außergewöhnlichem, vielleicht sogar Fremdartigem in dieser provinziellen Welt. Als in späteren Jahren ein milder Rheumatismus einsetzte – sie duldete das Wort nicht, nannte es ein »Zaudern« ihrer Finger –, hörte sie mit dem Klavierspielen auf. Vielleicht hätte sie fast ebenso gut weiterspielen können, aber »fast ebenso gut« stellte sie nicht zufrieden. So ging uns der Klang von Mrs McNultys Jazzspiel verloren.
Nachzutragen ist, dass das Klavier, von Holzwürmern befallen, später mit lautem, unmusikalischem Geklirr in einem Container landete.
Jetzt muss ich also zu ihr und sie nach diesem und jenem befragen. Ich bin unerklärlich nervös deswegen. Warum sollte ich nervös sein? Ich glaube, weil sie so viel älter ist als ich und, obwohl sie zu tiefem Schweigen neigt, eine äußerst angenehme Gesellschaft, so wie eine ältere Kollegin, die man verehrt. Ich glaube, das ist es. Vielleicht auch, weil ich den Verdacht habe, dass sie mich ebenso gern mag wie ich sie. Dabei wüsste ich nicht einmal, weshalb sie mich mag. Ich habe mir eine Neugier auf sie bewahrt, bin aber nie in ihr Leben eingetaucht, was man mir als professionellem Psychiater wohl anlasten könnte. Dennoch, so ist es nun einmal, sie mag mich. Doch um nichts in der Welt würde ich diese Zuneigung, deren Grundlage, meine ich, erschüttern wollen. Ich muss also vorsichtig zu Werke gehen.
Roseannes Selbstzeugnis
Wie gern würde ich sagen, ich hätte meinen Vater so sehr geliebt, dass ich ohne ihn nicht hätte leben können, aber ein solches Eingeständnis würde sich mit der Zeit als falsch erweisen. Diejenigen, die wir lieben, diese unentbehrlichen Wesen, werden uns entrissen nach dem Willen des Allmächtigen oder der Teufel, die sich seines Thrones bemächtigt haben. Es ist, als würde uns bei ihrem Tod ein riesiger Bleiklumpen auf die Seele gelegt, und wenn diese Seele vorher schwerelos war, so ist sie jetzt eine verborgene und verderbliche Last in unserem Innersten.
Als ich etwa zehn war, nahm mich mein Vater in einem Anfall von Erziehungswut mit in die Spitze des hohen, schlanken Turmes auf dem Friedhof. Es war einer jener schönen, stolzen, grazilen Bauten, die die Mönche in Zeiten der Gefahr und der Verheerung errichtet hatten. Er stand in einer mit Brennnesseln bewachsenen Ecke des Friedhofs und wurde nicht weiter beachtet. Wer in Sligo aufgewachsen war, für den war er einfach da. Aber zweifellos war er eine unvergleichliche Kostbarkeit, erbaut mit nur einem Hauch von Mörtel zwischen den Steinen, deren jeder der Krümmung des Turmes folgte und von den Maurern des Mittelalters mit größter Präzision eingefügt worden war. Natürlich war es ein katholischer Friedhof. Mein Vater hatte seine Anstellung nicht aufgrund seiner Konfession erhalten, sondern weil er bei jedermann in der Stadt beliebt war und die Katholiken nichts dagegen einzuwenden hatten, dass ihre Gräber von einem Presbyterianer ausgehoben wurden, solange dieser nur sympathisch war. Denn zu der Zeit herrschte zwischen den Kirchen oft besseres Einvernehmen, als wir meinen, und oft wird vergessen, dass, wie mein Vater oft betonte, die anderen von der anglikanischen Staatskirche abweichenden Bekenntnisse unter den Strafgesetzen längst verflossener Tage eben so zu leiden hatten wie das katholische. Dort, wo Freundschaft besteht, gibt es jedenfalls nur selten Schwierigkeiten mit der Konfession. Erst später wurde der Unterschied zum Abgrenzungsmerkmal. Zumindest weiß ich, dass der katholische Gemeindepfarrer, ein kleiner, forscher, flinker Mann namens Father Gaunt, der später, in meiner eigenen Geschichte, eine so große Rolle spielen sollte, falls ein kleiner Mann eine große Rolle spielen kann, ihn sehr gut leiden mochte.
Es war die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg, und in den Schützengräben der Geschichte befasst sich der Verstand vielleicht mit Merkwürdigkeiten, mit erzieherischen Verschrobenheiten wie jener, auf die er es an jenem Tag mit mir abgesehen hatte. Andernfalls könnte ich mir nicht erklären, weshalb ein erwachsener Mann sein Kind zusammen mit einem Sack voll Hämmer und Federn in die Spitze eines alten Turmes mitnehmen sollte.
Ganz Sligo – Fluss, Kirchen, Häuser – breitete sich strahlenförmig vom Fuß des Turmes aus, zumindest hatte es von der kleinen Fensteröffnung in der Spitze den Anschein. Ein vorüberfliegender Vogel hätte zwei aufgeregte Gesichter sehen können, die gleichzeitig hinaus zuspähen versuchten. Ich verlagerte mein Gewicht auf meine Zehen und stieß dabei gegen die Unterseite seines Kinns.
»Roseanne, liebstes Kind, ich hab mich heute Morgen schon rasiert, und dir mit deinem Goldschopf wird das ohnehin nicht gelingen.«
Denn es stimmte, dass ich weiches Haar hatte, das schimmerte wie Gold – wie das Gold jener Mönche.