Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

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Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry

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überlassen, ich weiß nicht, warum, den Priester zur Tür zu bringen. Auf dem schmalen Fußweg, wo die Kälte ihn umfing und zweifellos an seinen nackten Beinen die Soutane hinaufkroch, sagte der kleine Priester:

      »Roseanne, richte deinem Vater bitte aus, dass sich sämtliches Zubehör für sein Gewerbe im Rathaus befindet. Fallen und so weiter, nehme ich an. Dort wird er sie finden.«

      »Danke«, sagte ich.

      Dann machte er sich auf den Weg die Straße hinunter. Einen Moment später hielt er an. Ich weiß nicht, warum ich stehen blieb und ihn beobachtete. Er zog einen seiner schwarzen Schuhe aus, lehnte eine Hand gegen die Backsteinwand unseres Nachbarhauses, balancierte sodann auf einem Fuß und tastete an der Unterseite seiner Socke nach etwas, das ihn beim Gehen behinderte, ein Kieselsteinchen oder ein Stückchen Splitt. Dann löste er die Socke von ihrem Halter und zog sie mit raschem Schwung aus. Dabei enthüllte er einen länglichen weißen Fuß, dessen Zehennägel ziemlich gelb waren, so wie alte Zähne, und in die Haut einwuchsen, als wären sie noch nie ge schnitten worden. Als er mich erblickte, die ich die Augen noch immer auf ihn geheftet hatte, lachte er, zog, nachdem er den störenden Stein aufgespürt hatte, Socke und Schuh wieder an und stand breitbeinig auf dem Bürgersteig.

      »Was für eine Erleichterung«, sagte er freundlich. »Mach’s gut. Und«, setzte er hinzu, »gerade fällt mir ein, es gibt da auch einen Hund. Einen Hund, der zur Arbeit gehört. Zum Rattenfang.«

      Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, hatte mein Vater sich nicht gerührt. Das Motorrad hatte sich nicht gerührt. Das Klavier hatte sich nicht gerührt. Mein Vater sah aus, als würde er sich nie wieder rühren. Meine Mutter hörte ich in der Spülküche herumkratzen, genau wie eine Ratte. Oder wie ein kleiner Hund auf der Suche nach einer Ratte.

      »Verstehst du etwas von dieser Arbeit, Papa?«, fragte ich.

      »Ob ich – ach, ich denke schon.«

      »Du wirst sie schon nicht so schwierig finden.«

      »Nein, nein, auf dem Friedhof hatte ich mit so was oft zu tun. Die Ratten lieben die weiche Erde auf den Gräbern, und die Grabsteine bieten sich als Dächer geradezu an. Ja, ich hatte mit ihnen schon zu tun. Ich werde mich in die Sache einarbeiten müssen. Vielleicht gibt es in der Bücherei ein Handbuch.«

      »Ein Handbuch für Rattenfänger?«, fragte ich.

      »Ja, meinst du nicht, Roseanne?«

      »Bestimmt, Papa.«

      »O ja.«

      SECHSTES KAPITEL

      Ja, wie genau ich mich an den Tag erinnern kann, an dem mein Vater aus dem Friedhofsdienst entlassen wurde, ein lebendiger Mann, aus dem Reich der Toten verbannt.

      Auch das war ein kleiner Mord.

      Mein Vater liebte die Welt und seine Mitmenschen ohne größere Vorbehalte, ging als guter Presbyterianer davon aus, dass alle Seelen gleichermaßen angefochten sind, und hörte aus dem rauen Gelächter eines Straßenjungen eine Art Wesenserklärung des Lebens und der ihm innewohnenden Erlösung heraus. In der Tat glaubte er, dass, da Gott alles erschaffen hat, seine gesamte Schöpfung gutgeheißen werden muss, und ebenso, dass die Tragödie des Teufels darin besteht, dass er der Urheber von gar nichts und der Architekt leerer Räume ist. Aus alledem ergab sich, dass mein Vater seine gute Meinung von sich auf seine Arbeit gründete, darauf, dass er als An gehöriger eines ungewöhnlichen Religionsbekenntnisses dennoch mit der Aufgabe betraut worden war, die Katholiken Sligos zu beerdigen, wenn die Zeit einen nach dem anderen von ihnen abberief.

      »Welcher Stolz, welcher Stolz!«, pflegte er zu sagen, wenn wir abends in Vorbereitung auf den Heimweg gemeinsam die Eisentore abschlossen und sein Blick durch die Gitterstäbe hindurch auf die sich verdunkelnden Grab reihen fiel, auf die undeutlicher werdenden Grabsteine in seiner Obhut. Ich nehme an, er sprach mit sich selbst oder mit den Gräbern, vermutlich nicht mit mir, und nicht einen Augenblick lang wird er geglaubt haben, dass ich ihn verstand. Mag sein, dass ich ihn damals tatsächlich nicht verstanden habe, jetzt aber wohl schon.

      Die Wahrheit war, mein Vater liebte sein Land, er liebte seine Vorstellung von Irland. Wäre er als Jamaikaner auf die Welt gekommen, hätte er Jamaika vielleicht ebenso sehr geliebt. Aber er war es nicht. Seine Vorfahren hatten die kleinen Pfründen innegehabt, die ihresgleichen in irischen Ortschaften offenstanden, sie waren Bauinspektoren und dergleichen gewesen, und sein Vater hatte es sogar zu Predigerwürden gebracht. Er war in einem kleinen Pfarrhaus in Collooney zur Welt gekommen, sein kindliches Herz liebte Collooney, und sein erwachsen gewordenes Herz weitete jene Liebe auf die gesamte Insel aus. Da sein Vater einer jener radikalen Denker war, die Pamphlete über die Geschichte des Protestantismus in Irland geschrieben oder zumindest Predigten darüber gehalten hatten – denn Pamphlete haben sich keine erhalten, allerdings glaube ich mich zu erinnern, dass mein Vater ein oder zwei davon erwähnt hatte –, vertrat mein Vater Ansichten, die ihm nicht immer zum Vorteil gereichten. Will sagen, er sah im protestantischen Bekenntnis ein federweiches Instrument, das durch das alte Glaubenssystem in einen Hammer verwandelt und dazu benutzt worden war, die Köpfe jener zu zerschmettern, die sich abgeschunden hatten, um in Irland zu überleben, die meisten von ihnen von Haus aus Katholiken. Der Vater meines Vaters liebte den Presbyterianismus, er selbst auch, aber er war zu Tode betrübt, nein, er war zu Tode erzürnt über den Gebrauch, der in Irland vom Presbyterianismus ebenso wie von den Konfessionen der Anglikaner, der Baptisten und so weiter gemacht worden war.

      Woher ich das weiß? Weil er an jedem Abend, an wirklich jedem Abend meiner Kindheit als Letztes immer in mein schmales Bett gekrochen kam, mich mit seinen breiten Hüften beiseite schubste, sodass ich, den Kopf dicht an seinem schnurrbärtigen Gesicht, halb auf ihm lag, und redete, redete, redete, während meine Mutter sich im anderen Zimmer schlafen legte. Wenn er ihre leisen Schnarchgeräusche hörte, verließ er mich und gesellte sich zu ihr, doch in jener halben Stunde im Dunkeln, wenn er ihr erlaubte, allein in den Schlaf zu finden, wenn der Mond zunächst auf der hinteren Mauer hockte, um dann, wie es sich für einen Mond gehört, dunkel und hell zugleich in den Himmel der (wie ich wohl weiß) unerreichbaren Sterne aufzuschweben, da trug er mir all die Ahnungen, Befürchtungen und Geschichten seines Herzens vor, sorgte sich vielleicht nicht einmal darum, dass ich womöglich nichts davon verstand, sondern bot sie mir dar wie eine Musik, die ihn und darum auch mich ebenso betörte wie die Werke von Balfe und Sullivan, seiner Meinung nach zwei der bedeutendsten Iren, die je gelebt hatten.

      Und auf dem Friedhof zu arbeiten, sozusagen unter der Schirmherrschaft von Father Gaunt, war für ihn ein gewissermaßen erfülltes, ein gelungenes Leben. Eine Art Gebet, das er an den eigenen Vater richtete. Es war die Art, wie er gelernt hatte, in Irland zu leben, jenem zufälligen Geburtsland, das er so liebte.

      Und mit dem Arbeitsplatz verlor er auf außergewöhnliche Weise sich selbst.

      Nun wurde es heikler, mit ihm zusammenzusein. Es war schwierig für ihn, mich auf Rattenfang mitzunehmen, weil es eine so schmutzige, knifflige und gefahrvolle Tätigkeit war.

      Da er ein gründlicher Mann war, machte er bald das kleine Buch ausfindig, das ihm helfen würde: Eine vollständige Darstellung der Rattenfängerei, verfasst von einem Autor mit dem Pseudonym Rattus Rattus. Dieses Bändchen berichtete von den Abenteuern eines Rattenfängers in den Fabriken von Manchester, einer Stadt, in der sich die Fabriken, die den Ratten unendlich viele Verstecke zum Leben boten, nur so häuften. Mein Vater lernte daraus, wie er bei seiner Arbeit vorzugehen hatte, alles wurde thematisiert, sogar die Aufmerksamkeit, die man den Pfoten von Frettchen widmen musste; in ihren feuchten Käfigen waren sie offenbar sehr anfällig für Fußfäule. Doch die Würde, Frettchen zu halten, blieb meinem

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