Trust me - Blindes Vertrauen. Moni Kaspers
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„Da wäre es doch ganz wunderbar, wenn wir nun vierhändig einen Flohwalzer spielen. Vielleicht ist es für diesen edlen Flügel eine wahre Erholung, einen albernen Flohwalzer aus der Brust zu schmettern.“
Sie vernahm das Öffnen der Klappe, dann nahm er ihre Hand und führte sie auf die Tasten. Ein ehrfürchtiges Gefühl durchfuhr sie, als sie ein paar Akkorde und über zwei Oktaven die Tonleiter rauf und runter spielte. Bereits bei den ersten Tönen verbreitete sich ein feiner, transparenter Klang mit einem sehr schönen perlenden Diskant und kraftvollen Bässen. Sie schlichen sanft in ihre Ohren, drangen durch ihren Körper und ließen ihre Nervenstränge hauchdünn vibrieren. Die Mechanik war leichtgängig und schnell. Der Unterschied zu ihrem alten Pianino zuhause einfach sensationell.
„Also nun“, sagte sie beschwingt. „Lassen wir die Flöhe los. Sie beginnen, ich steige ein.“
Sie hörte, wie er die ersten Töne spielte und dabei fröhlich mitsang. „La-La-La-La-La, Ta-da-da-da-taaa …“
„Dubi dumdum-dumdum-dumdummdumm“, sang sie spaßeshalber mit und lachte dazu. Ach, das war herrlich. Aus dem hinteren Bereich des Ladens fiel plötzlich eine E-Gitarre laut mit ein und jemand klatschte johlend dazu. George und sie waren nicht mehr zu bremsen. Als sie lachend ihr Duett beendeten, ernteten sie den Beifall der Anwesenden. Es schien ihr, als hätte sogar der Flügel ein albernes Kichern von sich gegeben.
„Nun muss ich aber wirklich los“, sagte sie. „July wartet sicher bereits auf mich.“
„Darf ich meine Begleitung anbieten?“
„Danke George, das ist sehr zuvorkommend, aber ich muss nur ein paar Türen weiter ins Diner. Den Weg kenne ich wie meine Westentasche.“ Sie streckte ihre Hand aus und spürte kurz darauf, wie seine Hand die ihre umschloss. Sie war groß, fleischig und warm.
„Wenigstens bis zur Tür.“
„Wie könnte ich da nein sagen?“, erwiderte sie mit einem Lächeln und ließ sich von ihm zur Tür bringen. Er öffnete sie, die Umweltgeräusche verstärkten sich.
„Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder.“
Leon massierte seine Schläfen und versuchte sich währenddessen auf die Straße zu konzentrieren. Seine Kopfschmerzen hatten sich in den letzten hundert Meilen massiv verstärkt und obwohl er Tabletten verabscheute, war er entschlossen, die nächste Ortschaft anzufahren und sich ein Medikament gegen das hämmernde Pochen zu besorgen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag Twister, eine mittelgroße Promenandenmischung. Den Namen hatte er ihm gegeben, nachdem er ihn nach einem Tornado aus den Trümmern gezogen hatte. Er war nur zufällig an dem Ort vorbeigefahren, der Tage zuvor dem Erdboden gleichgemacht worden war. Die meisten Menschen waren rechtzeitig gewarnt worden und hatten sich vor der Naturgewalt retten können, doch an den kleinen Kacker hatte offenbar niemand gedacht. Er fand ihn in den Resten einer alten Scheune, als er anhielt, weil er pinkeln musste. Verdreckt, durchnässt und verletzt hatte der Hund zwischen den Brettern gelegen. Leon hatte ihn herausgezogen und sich bemüht, ihn in einem hoffnungslos überfüllten Tierheim abzugeben, doch die gestresste Mitarbeiterin bat ihn, sich des Hundes anzunehmen, bis sich eventuell jemand meldete. Sie erklärte ihm, dass die Menschen ihre Tiere oft sich selbst überließen und lieber ihre Wertsachen retteten. Um dem drohenden Unwetter zu entkommen, rannten die panischen Tiere oft kilometerweit davon, wenn sie es überlebten. Viele fanden ihre Besitzer nie wieder. Weidevieh wie Rinder, Schafe oder Pferde hatten die größeren Chancen auf eine Rückkehr zu ihren alten Besitzern, denn sie waren von Wert für die Farmer. Hunde oder Katzen waren es nicht, und wenn sie nicht das seltene Glück hatten, von liebevollen Besitzern vermisst und gesucht zu werden, wurde einfach ein neues Haustier besorgt. Twister gehörte zu den Hunden, die nicht vermisst wurden. Der kleine Kerl hatte ihm leid getan und er erklärte sich einverstanden, ihn mitzunehmen. Er hatte seine Nummer hinterlassen, doch die Dame aus dem Tierheim machte ihm wenig Hoffnung auf einen Anruf.
„Wenn sie ihn mitnehmen“, hatte sie gesagt, „dann richten Sie sich darauf ein, dass Sie nun einen Hund besitzen.“
Sie sollte recht behalten, denn seit über einem Jahr hatte sich niemand gemeldet. Wer nun dachte, Twister und er wären sofort ein Herz und eine Seele, der dachte falsch. So ganz war der Hund nicht davon begeistert, ihn als sein Herrchen zu akzeptieren, und auch er hatte zunächst gehofft, ihre Zweckgemeinschaft wäre eine zeitlich begrenzte Beziehung mit respektvoller Distanz. Doch nach und nach hatten sie sich damit abgefunden, Leon sogar eher als der Hund, dass sie es wohl miteinander aushalten mussten. Twister liebte das Autofahren und seinen Stammplatz im Fußraum. Er war oft kaum zu bewegen, den Wagen zu verlassen, als hätte er diesen zu seiner Schutzzone erwählt. Manchmal fragte er sich, ob es das Richtige für den Hund war. Ob es nicht besser wäre, eine Familie für ihn zu finden. Vor kurzem hatte Twister tatsächlich erst seine Pfote und dann die Schnauze auf Leons Oberschenkel gelegt und ihn mit freundlichem Blick angesehen. Das war das Netteste, was er je getan hatte. Das Eis war seither zwar gebrochen, doch da sie offenbar beide nicht zu Gefühlsausbrüchen neigten, beschränkten sich ihre gelegentlichen Zuneigungsbeweise auf ein leichtes Tätscheln oder ein Wippen mit der Schwanzspitze.
Nun waren sie also unterwegs nach Tillamook. Irgendeinem Nest, auf ihrem Weg zu den Ölfeldern in der Nähe von Bakersfield. Hoffentlich war dieses Dorf wenigstens so groß, dass es eine Drogerie besaß und die Einwohner Tillamooks ebenfalls gelegentlich unter Migräne litten. Als er das Ortsschild passierte, breitete sich plötzlich der Gestank von Käse im Wagen aus. Leon öffnete angewidert das Fenster und bedachte Twister mit einem vorwurfsvollen Blick, doch der Geruch verstärkte sich, als die Luft in den Wagen strömte. Twister hielt die Nase in die Höhe, dann schubbelte er mit der Pfote über die Schnauze und nieste zweimal kräftig. Ihm schien der Käsegeruch auch nicht zu liegen. Der Übeltäter war schnell ausgemacht, sie näherten sich einer riesigen blauen Fabrikhalle, auf deren Wänden in monumentalen gelben Buchstaben ‚Tillamook Cheese Factory’ geschrieben stand. Mit einer Käsefabrik hatte er am Rande des Pazifiks nicht gerechnet. Eine Fischfabrik vielleicht, aber Käse? Entschädigt wurde er jedoch von der grandiosen Aussicht, die sich eröffnete, als er die Fabrik hinter sich ließ. Die Straße führte am Rande der Klippen vorbei und der Blick über den unendlich scheinenden Pazifik war atemberaubend. Ungezähmt und wild preschten die Wellen mit roher Gewalt gegen die hunderte Meter hohe Felsküste, die sich bis zum Horizont erstreckte. Wehe dem, der dort unten in Seenot geriet.
Leon nutzte die Gelegenheit, um kurz anzuhalten und den Geruch von Käse aus den Lungen zu verjagen. Er ließ Twister sein Geschäft verrichten und legte ein paar Schritte Richtung Steilwand zurück. Schilder warnten vor zu nahem Herantreten an die Abbruchkante, also blieb er stehen und füllte seine Lungen mit kühler Seeluft. Wo die Gischt der brechenden Wellen in die Höhe stieg, war es dunstig, doch weiter hinaus legte sich der Schleier und gab den Blick auf tiefblaues Wasser frei.
In diesem Moment hatte er unerwartet ein seltsames Gefühl im Bauch und er musste darüber nachdenken, was es bedeuten könnte. Er forschte in seinem Inneren und empfand so etwas wie Frieden. Als fiele etwas von ihm ab. Das war ihm fremd, so seltsam das klingen mochte, doch er kannte dieses zufriedene, geradezu glückliche Gefühl nicht. Es war wohl irgendwann verloren gegangen. Ohne es zu wollen, atmete er erneut tief ein, als hätte seine Lunge einen eigenen Impuls. Als schlüge sein Herz, ohne sein Dazutun plötzlich schneller. Was mochte die Ursache dafür sein? Der Blick auf den Pazifik? Den kannte er zur Genüge, er war nicht das erste Mal am Meer. Es war ein Gefühl, als wäre er endlich dort angekommen, wo er nie hinwollte. Wie wenn man etwas fand, was man nie gesucht hatte. Leon schüttelte den Kopf über seine