Fettnäpfchenführer Brasilien. Nina Büttner
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Außerdem haben die meisten Menschen mindestens einen zweiten Vornamen, und so kann der gesamte Name sehr lang werden. Selbst im Parlament in Brasília werden die Namen der Abgeordneten alphabetisch nach Vornamen sortiert. Den früheren Präsidenten Luíz Inácio (Lula) da Silva kennen viele nur unter dem Spitznamen Lula, den er erst offiziell in seinen Namen eingefügt hat, als er unter diesem Spitznamen schon bekannt war. Und bei Fußballern wissen sowieso nur die wenigsten, wie sie mit vollem Namen heißen (wer bitte schön weiß, wie Neymar komplett heißt?).
Linda muss also keinen Spott fürchten, wenn sie »Lehrerin Linda« genannt wird, denn schließlich wurde Lula ja auch presidente Lula gerufen. Und ihre Schüler und Kollegen kann sie getrost mit dem Spitznamen ansprechen. Bei Diegão wird sich Linda außerdem zwingen müssen, ihn zu duzen – alles andere wirkt auf brasilianische Ohren überaus gestelzt.
Trotz dieses lockeren Tons sollten Sie bei Begrüßungen und Vorstellungen die Formalität dieses Rituals nicht missachten. Ein freundliches prazer ist beim Kennenlernen unverzichtbar und eine Frage nach Befinden, Herkunft oder Ähnlichem zeigt Ihr Interesse und bricht das Eis.
7
LINDA WILLDOCH NURALLES KORREKTMACHEN
WIE GAUNER ZU HELDEN WERDEN
Seit einer Woche arbeitet Linda nun in der Sprachschule und ist dabei, ihre Routine zu finden. Morgens um halb sieben steht sie auf, flucht etwas über diese Nation von Frühaufstehern, die zudem keine Siesta kennt – so hat sie sich das nicht vorgestellt in Südamerika –, trinkt ihren cafezinho und fährt mit ihrem Chef de carona (siehe Infokasten unten) von Grajaú nach Botafogo, wo die Sprachschule ihren Hauptsitz hat.
CARONA – DIE BRASILIANISCHE MITFAHRGELEGENHEIT
Eine Institution der brasilianischen Nächstenliebe: Du bist nicht mit dem Auto hier? Wir finden jemanden, der dich mitnimmt! Denn jede Brasilianerin kann nachvollziehen, wie mühsam die Fortbewegung im öffentlichen Nahverkehr ist, und auch das Zufußgehen kann bei über dreißig Grad zur Qual werden. Da Brasilien nun aber kein so reiches Land ist, dass jeder immer mit dem Auto unterwegs ist, kommt es häufig vor, dass man sich gegenseitig mitnimmt. Nicht so geregelt und anonym wie bei Uber oder blablacar, aber eben doch auch nicht ganz so unverbindlich, wie man in Deutschland zu Freunden sagt: Ich nehme dich ein Stück mit. Denn die carona ist eine soziale Institution. Wer in Ruhe mit jemandem sprechen will, gibt der Person eine carona. Im Auto kann man nicht unterbrochen werden, man ist unter sich und bei Verlegenheit unterhält man sich über das, was am Fenster vorbeizieht, oder macht das Radio an und spricht über Musik. Schweigeminuten hingegen gelten als schlimmstmögliches Szenario einer carona.
Ein paar typische Beispielsätze rund um die carona
»Vim de carona.« – Ich wurde (im Auto) mitgenommen.
»Quer uma carona?« – Willst du bei mir mitfahren?
»Pode me dar uma carona?« – Kannst du mich (im Auto) mitnehmen?
»Vou pegar uma carona.« – Ich fahre per Mitfahrgelegenheit.
Wenn Linda und Marcelo im morgendlichen Stau stehen, die Sonne schon anfängt zu brennen und das Treiben um sie herum das Gegenteil der Eintönigkeit ist, die sie auf dem grauen Weg zur Uni in Deutschland verspürt, dann schleicht sich so langsam die Vorfreude auf ihre Unterrichtsstunden ein. Sie hat inzwischen alle ihre Klassen kennengelernt und sogar ein paar Privatschüler. Und alle, aber auch ausnahmslos alle, sind ausgesprochen nett zu ihr, neugierig auf ihre Geschichten aus Deutschland, machen den Unterricht mit Freude mit und versuchen ihr das Leben leichter zu machen: Sie holen ihr ein Glas Wasser, suchen selbst nach Grammatikerklärungen im Internet, die sie allen ausdrucken, und wer Englisch kann, übersetzt, wenn Linda mal etwas nicht versteht.
So verläuft auch dieser Freitag zwischen Unterrichtsstunden, Plauschen mit den Schülern und Mittagessen mit den Kollegen. Nach ihrer letzten Stunde ruft Mariana, die Rezeptionistin, sie ins Zimmer des Chefs: »Linda, o Marcelo está querendo falar com você.« – Linda, Marcelo will mit dir sprechen.
Linda hofft, dass es um ihren Vertrag geht, denn bis jetzt hat sie noch immer keinen unterschrieben. Nachdem Marcelo keine Anstalten gemacht hat, ihr einen aufzusetzen, hat sie nachgefragt, und er hat versprochen, sich darum zu kümmern.
Er empfängt sie freundlich: »Linda, senta aí« – Setz dich, Linda. »Wie läuft der Unterricht?«
»Gut, denke ich. Manchmal verstehe ich die Schüler allerdings nicht ganz genau. Und im Lehrbuch sind ein paar Fehler, und viele Grammatikregeln sind gar nicht erklärt ...«
»Ich glaube, du kommst gut zurecht, die Schüler mögen dich«, würgt sie Marcelo ab. »Du hast mich daran erinnert, dass du noch keinen Vertrag hast. Ich habe mich mal erkundigt«, dabei zieht er einen etwa fünf Zentimeter hohen Papierstapel aus einer Schublade, »das sind die Unterlagen, die ich ausfüllen müsste, um dich legal zu beschäftigen. Ich muss beweisen, dass kein brasilianischer Staatsbürger deinen Job übernehmen könnte. Wir dürfen erst Ausländer einstellen, wenn wir nachweisen können, dass sich hier niemand mit den entsprechenden Qualifikationen findet.«
»Aber das dürfte doch nicht so schwierig sein bei einem Job als Deutschlehrerin.«
»Es geht. Also schau mal, ich möchte dir etwas vorschlagen. A gente vai dar um jeito« – Wir lösen das. Marcelo schaut Linda ernst und irgendwie konspirativ an: »Du bist nur drei Monate hier. Wollen wir das für die Zeit nicht einfach unter uns regeln? Du bekommst jeden Monat deinen Lohn, musst keine Steuern zahlen, und wir zahlen dir sogar ein dreizehntes Monatsgehalt. Alles so, wie es die anderen Lehrer auch bekommen.«
Linda stutzt: »Wie bekomme ich denn dann das Geld?«
»Mariana wird dir an jedem Monatsende einen Umschlag geben. Immer pünktlich und alles korrekt. Sie führt ja Buch über deine Stunden.«
Linda schaut Marcelo ungläubig an. Sie denkt an Lohntüten und Arbeiter aus einer verlorenen Zeit, die sich nach einem Monat harter Grubenarbeit in der Eckkneipe die Kante geben. Und sie denkt an all die kursierenden Vorurteile über unehrliche Südamerikaner, über gewitzte Bauernfänger, die seriös daherkommen und naive Deutsche übers Ohr hauen.
»Ähm, ich weiß nicht ...«
Dann schwenkt sie um und erinnert sich daran, dass sie bei Marcelo wohnt und sich daher doch wohl immerhin darauf verlassen kann, dass er sie bezahlt – selbst wenn sie dann mit einem Briefumschlag voller Geld durch den Monat kommen muss und wahrscheinlich anfangen wird, wie ihre Urgroßmutter das Geld unterm Kopfkissen zu verstecken.
»Ja, na gut, wenn du meinst, das ist okay so für eure Buchhaltung ...« Marcelo atmet erleichtert aus.
»Du