Fettnäpfchenführer Kanada. Sophie von Vogel
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Mareike drängt sich durch die immer dichter werdende Menschenmasse und kann zwar weit und breit keine Absperrung, aber auch keinen Eingang zum Konzert entdecken. Wie seltsam. Das kommt ihr doch alles etwas unorganisiert vor. Schließlich findet sie auf einer Treppe einen Platz zum Sitzen und ruht sich etwas aus. »De la bière, de la bière! Qui veut de la bière?« – Bier, Bier! Wer möchte Bier? Ein sportlich aussehender junger Mann, der ein Labatt-Blue-T-Shirt trägt, von einer kanadischen Brauerei, die dem T-Shirt zufolge 1847 in London /Ontario gegründet wurde, balanciert ein Tablett voller Plastikbecher mit Bier hoch über seinem Kopf durch die Menge und kommt auf Mareike zu. Er wird schnell umlagert von einer Gruppe relativ jung aussehender Mädchen, die laut kreischend so viel Bier kaufen, wie sie tragen können, und dann lachend in der Menge verschwinden. Liegt in Nordamerika nicht die Grenze für Alkoholkonsum bei 21 Jahren? Die Mädchen sind definitiv viel, viel jünger. Na ja. Vielleicht nehmen es die Kanadier damit nicht so genau. Mareike kauft sich ebenfalls ein Bier und versucht, näher an die Bühne zu kommen. Aber da ist nichts zu machen. Die Menschen stehen so eng gedrängt, dass Mareike lieber kehrtmacht, bevor sie noch Platzangst bekommt.
An einer Straßenecke neben einem Hotdog-Stand findet sie einen halbwegs ruhigen Platz, von dem aus sie doch noch einen guten Blick auf die Bühne hat, die am anderen Ende der Stadt zu stehen scheint. Da beginnt auch schon der Auftakt der Show! Wow – der Sound ist selbst hier hinten super! Die Vorstellung ist atemberaubend. Die Artisten fliegen durch die Sommerluft, als hätten sie noch nie etwas von Schwerkraft gehört, und die bunten, satten Farben, die originellen Kostüme und die musikalische Begleitung des Orchesters sind wie aus einer anderen Welt. Die Zeit vergeht wie im Flug.
Um 22 Uhr will Maude Mareike an der U-Bahn-Station Berri-UQAM abholen. Mareike kauft sich noch ein zweites Bier, das nach dem heißen Sommertag wahnsinnig erfrischend ist, und macht sich langsam auf den Weg zum Treffpunkt. In den Seitenstraßen des Festivals wird es sofort ruhiger. Mareike blickt in die düsteren Gässchen zwischen den zum Teil recht alten Häusern. Huh – da sieht es finster aus. Und zugleich erinnert es sie ein wenig an die legendären Straßenzüge New Yorks, wo ebenfalls metallene Feuertreppen an den Fassaden angebracht sind, ab und zu eine Sirene zu hören ist und alles ziemlich verrucht wirkt. Angst hat Mareike hier aber ganz und gar nicht. Dafür sind noch zu viele Menschen unterwegs und auch zu später Stunde die Cafés und Restaurants noch zu gut besucht. Die Stadt sprudelt vor Lebendigkeit. Und immer wieder hat Mareike einen ganz eigenen Geruch in der Nase – wie geräuchertes Fleisch. Komisch.
Einige Straßen vom Festival entfernt, bemerkt sie, dass manche Passanten sie etwas seltsam anschauen. Verunsichert blickt Mareike an sich herab. Hat sie Ketchup auf ihrem T-Shirt, ist ihr Rock verrutscht oder sieht man ihr so sehr an, dass sie eine unwissende Touristin ist? Egal. Selig, so einen schönen Abend gehabt zu haben, und verrückterweise auch noch gratis, schlendert sie den Boulevard Saint-Laurent hinunter. Neben etwas heruntergekommenen, aber sehr charmant wirkenden zweistöckigen Gebäuden finden sich immer wieder ein schickes Restaurant oder kleine Designerläden. Eine schöne Mischung, findet Mareike. Das Jazzfestival soll noch eine ganze Woche dauern. Sie hat in dem dicken Programmheft von einigen Bands gelesen, die sie unglaublich gerne sehen möchte. Sogar Norah Jones soll auftreten. Aber das Konzert ist bestimmt richtig teuer. Sie muss unbedingt Maude fragen, wie das mit den Tickets ... »Excusez-moi, Mademoiselle, vous n’avez pas le droit de boire de l’alcool au public.« – Entschuldigen Sie, junge Dame, Sie dürfen in der Öffentlichkeit keinen Alkohol trinken.
Mareike war so in Gedanken, dass sie die Polizisten gar nicht bemerkt hat, die sich vor ihr aufgebaut haben. Sie hat kein Wort verstanden. War das Konzert doch kostenpflichtig?
»Ich habe wirklich eine Kasse gesucht, aber keine gefunden. Tut mir echt leid, aber wenn Sie das Festivalgelände so schlecht abriegeln, dann lädt das ja geradezu blinde Passagiere ein!«
Die Polizisten beäugen Mareike belustigt, während sie sich auf Englisch mit ihrem starken Akzent aufregt. Jetzt wird sie noch nicht einmal von der Polizei ernst genommen!
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Mareike hat den Grund dafür, dass die Polizisten sie angehalten haben, missverstanden: Anders als in Deutschland darf in ganz Kanada (wie auch in den USA) kein Alkohol in der Öffentlichkeit getrunken werden. Daher stammt auch die berühmte braune Papiertüte, in der man seine alkoholhaltigen Getränke gerne versteckt. Wenn man beim Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit erwischt wird, droht eine saftige Geldstrafe – theoretisch kann man sogar festgenommen werden. Touristen kommen durchaus auch einmal mit einer Verwarnung davon, wenn sie es nicht übertreiben. Verlassen sollte man sich darauf aber nicht.
Montréal wird im Sommer von Festivals belagert – es findet eines nach dem anderen statt: ein Comedyfestival, ein Jazzfestival, ein Popfestival, ein Afrikafestival, ein Filmfestival ... Die Festivalzeit scheint nie aufzuhören und bringt eine tolle Stimmung in die Stadt. Das Jazzfestival ist wohl das berühmteste. Hier traten schon Jazzgrößen wie Ray Charles oder Miles Davis auf und ziehen nicht nur viele Touristen, sondern auch einheimische Zuschauer an.
Mareike hat sich übrigens völlig umsonst Sorgen gemacht: Ein Großteil der Konzerte ist tatsächlich gratis! Vor allem diejenigen auf dem Festivalgelände rund um den Place des Arts. Der liegt mitten in der Innenstadt Montréals und ist das Herz des neu entstehenden Quartier des Spectacles. In unmittelbarer Nähe finden sich verschiedene Konzertsäle, das Museum für zeitgenössische Kunst, die Oper und das Ballett Montréals. Andere Festivals wiederum finden in den verschiedenen Konzert- und Veranstaltungssälen der Stadt statt und kosten Eintritt. Viele Einheimische, die downtown arbeiten, gehen gleich nach der Arbeit zum Place des Arts, treffen sich dort mit Freunden und lauschen den ersten Konzerten des Abends.
Gerade bei der Anfangsshow treten immer besonders berühmte Künstler auf und die Fans kommen oft drei bis vier Stunden vorher, um möglichst nah an der Bühne zu stehen. Wer wie Mareike eine Stunde vor Beginn ankommt, darf daher nicht enttäuscht sein, wenn er weiter hinten ausharren muss. Allerdings werden überall große Leinwände und Lautsprecher aufgestellt, sodass der Besuch des Festivals – egal, welchen Platz man bekommt – immer ein Genuss ist.
KANADA – DAS LAND DER FESTIVALS
Kanada ist ein kulturell sehr vielfältiges Land, was sich auch in der Diversität der vielen Festivals widerspiegelt. Hier nur eine kleine Auswahl der bekanntesten Festivals in Kanada:
Celebration of Lights, Vancouver: Der weltweit größte Feuerwerk-Wettbewerb findet jeden Sommer über mehrere Wochen statt. Ähnliche Festivals gibt es auch in anderen Städten, zum Beispiel in Montréal.
Calgary Stampede, Calgary: Eine riesige zehntägige Cowboy-Show, die jedes Jahr im Juli draußen stattfindet.
Edmonton Folk Festival, Edmonton: Ein großes Folk-Festival, jährlich im August, sehr beliebt und eher preisgünstig.
Toronto International Film Festival, Toronto: Kanadas wichtigstes Filmfestival, das auch international einen sehr guten Ruf genießt.
Winterlude, Ottawa: Eines der vielen Winterfestivals, mit denen die Kanadier die tiefen Temperaturen feiern. In den ersten Februarwochen gibt es Eisskulpturen, Schneespielplätze und unendlich viele weitere Aktivitäten.
Montreal International Jazz Festival, Montréal: Über 500 Konzerte, davon über die Hälfte gratis, internationale Musiker und die Geburtsstätte vieler junger Künstler.
Just for Laughs, Montréal: Seit 1983 bringen internationale Comedians die Stadt jedes Jahr im Juli zum Lachen. Ein buntes Straßenfest