Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich

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Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich

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Wirklichkeiten aller Art bedeutet aber nicht, dass es kein dort draußen oder Reales gibt. Im Erschrecken oder Erstaunen über die Wirkungen des Realen werden unsere menschlichen Konstruktionen immer wieder auf die Probe gestellt (vgl. zur Begründung des Realen im Konstruktivismus Reich 2009).

      Die lange Dauer (longue durée) umfasst längere historische Zeiträume, wie die Pharaonenherrschaft oder das Feudalzeitalter des Mittelalters. Der Kapitalismus könnte auch in diese Zeitauffassung passen, es sei denn, er würde, wie es heute scheint, durch seine Tendenzen der Kapitalisierung das Anthropozän so nachhaltig bestimmen, dass die unterste Zeitebene grundsätzlich verändert wird. Solche Zuschreibungen werden allerdings immer erst im Nachhinein deutlich, und ohnehin ist zu bemerken, dass alle Einteilungen der Erdzeitalter rein menschliche Konstruktionen sind.

      In der jüngsten Zeit, das zeigen die Studien Braudels, hat sich der Kapitalismus stufenweise entwickelt: zunächst lokal über Tausch und Märkte, dann über eine etablierte Marktwirtschaft mit Konkurrenz unter erst nationalen und später globalen Wettbewerbsbedingungen, schließlich als allumfassender Kapitalismus, der jeden Winkel der Erde erreicht und eine Weltwirtschaft errichtet hat.

      Für die Nachhaltigkeit ist dieser Aufwärtstrend der Entwicklung die Ursache für die heutige Krise. Eine Umkehr scheint einigen nur dadurch möglich, wenn die Schritte rückwärtsgegangen werden: Eine Lokalökonomie mit kurzen Wegen und wenig Schadstoffen und Treibhausgasen, mit hoher Verantwortlichkeit und Zugehörigkeit in den Verpflichtungen kleiner und verbindlicher sozialer Gruppen könnte als Regionalpolitik Strukturen aufbauen, die nachhaltiger als die jetzige Produktions- und Lebensweise wirken. Nur wie sollen sich die Menschen davon überzeugen lassen, wenn ihnen gerade der allumfassende Kapitalismus mit weniger Zugehörigkeit und hoher Konkurrenz gegeneinander zugleich alle Vorteile im Wohlstand und einem längeren Leben beschwert haben?

      In Anbetracht der langen Dauer von Kolonialismus und Benachteiligung vieler Regionen der Welt kann der Wandel ins regionale, ökologische Idyll vor dem Hintergrund einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft ohnehin nur eine Hoffnung in den reichen Ländern sein. Eine andere Hoffnung ist es, dass wissenschaftlich-technologische Revolutionen uns in einen ganz anderen Stand der Versöhnung von Wirtschaftswachstum und Umweltverträglichkeit versetzen könnten, obwohl sie das gegenwärtig noch nicht erreichen.

      Die Gegenwart ist eher durch die Vielfalt der Bedürfnisse der Menschen in ihren aktuellen Ereignissen bestimmt, auch wenn eine mittlere Dauer die Konjunkturen ausdrückt, in denen dies geschieht. Einzelereignisse sind von eingeschränkter Dauer, sie bilden die Daten der Geschichte, die sich aneinanderreihen lassen, obwohl man allein aus ihnen diese Geschichte nicht verstehen kann. So betrachtet erscheinen menschliche Ereignisse wie Wellen auf der Oberfläche des Geschichtsflusses, ohne einen tieferen Grund zu erfassen.

      Zur langen Dauer gehört heute die kapitalistische Entwicklung, die unsere Lage bestimmt. Für Altvater findet in Braudels »langer Zeit des 16. Jahrhunderts« eine Wende statt, in der die Märkte und der Mehrwert, der vor allem aus der Lohnarbeit gewonnen werden konnte, immer dominanter wurden, um dann im 18. Jahrhundert eine weitere Wende zu erfahren, in der eine »Verbindung von im Überfluss vorhandenen fossilen Brennstoffen und modernen Maschinen« stattfand, um dann »schnell Europa und Nordamerika und dann den Rest der Welt zu verändern. Weit entfernt von einer rein technischen Entwicklung, war diese industrielle Transformation ein Kind des europäischen Rationalismus, der Profitgier und der Dynamik von Geld und Markt. Der industrielle Kapitalismus, der von billigen fossilen Brennstoffen getragen wurde, wurde zum vorherrschenden Modell der modernen Wirtschaftsentwicklung. Nicht weniger wichtig, schuf er auch eine neue globale sozial-ökologische Realität.« (Altvater 2016, 146)

       Die Vertreibung aus natürlichen Rhythmen in die Zeitkontrolle

      Der Jahresablauf im Rhythmus der natürlichen Produktionsphasen einer Feudalgesellschaft verwandelt sich mit der Industrialisierung in ein neues Denken, in dem alles in Zeit gemessen und in Geld verwandelt wird. Die Zeit wird rationalisiert; Kalender, Uhren, Maßstäbe effektiv genutzter Zeit gegenüber einem Müßiggang verweisen darauf, dass die Zeit in einer Gegenwart mit beschränktem Ende gelebt und genutzt werden muss. Die Arbeit rückt ins Zentrum einer Schaffenskraft, die auf eine Vermehrung der materiellen Dinge und des Wohlstands setzt. Dabei entwickelt der Mensch eine Haltung, die gesamte Welt von sich aus, von seinen Bedürfnissen und dem wachsenden Wohlstand her zu denken, ohne Rücksicht auf Verluste bei ärmeren Klassen, in fremden Ländern oder für die Umwelt zu nehmen. Um die Ausbeutung des Menschen zu bremsen, entsteht eine Arbeiterbewegung als Gegenkraft. Um die Natur und Umwelt oder fremde Völker zu schützen, dazu fehlen nachhaltige Bewegungen von Anfang an.

      Thompson (1967) zeigt etwa, wie Zeit und Macht innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verschränkt eingesetzt werden. Die Kontrolle der Zeit steht dabei im Fokus in der Organisation der Industrie wie des Lebens. Er analysiert, wie die Arbeitsverhältnisse im Übergang von der Feudalzeit in die Industrialisierung durch mechanische, lineare Zeitmessungen ersetzt und wirksam gemacht wurden. Hierzu gehört insbesondere der Einsatz von Uhren und die genaue Bestimmung von kleinen und gut definierten Arbeitseinheiten. Die Leistungen werden von einer Bewertung in der Gesamtleistung eines längeren Zeitraums zunächst auf Wochen, dann Tage, schließlich Stunden und Minuten festgelegt. Die Kontrolle dieser Zeiten wird immer engmaschiger und subtiler, sie reicht von der persönlichen Überprüfung über die Stempelkarte bis hin zur elektronischen Erfassung der Zeiten. In der Erziehung der Menschen, früher vielfach noch religiös als Tugend zur Arbeitsamkeit und zum Fleiß inspiriert, um ein sittliches Leben zu führen, hat nach Max Weber (1934) insbesondere die protestantische Ethik dazu beigetragen, das Wirtschaftsleben zu effektivieren. Besonders drei Maßnahmen helfen hierbei: eine effektive Betriebsorganisation, die Trennung von Haushalt und Betrieb und eine rationale Buchführung. Diese Maßnahmen sind immer vor dem Hintergrund zu sehen, dass Zeit und Geld gegeneinander aufgerechnet werden.

      Während die Landwirtschaft noch länger den Nutzungsmöglichkeiten in natürlichen Zeitabläufen folgte und erst nach und nach industrialisiert wird, so wird alle Waren produzierende Arbeit unter Zeitdruck gestellt, damit sich durch Zeitersparnis der Gewinn vergrößert. Je weniger Zeit nötig ist, um etwas herzustellen, desto kostengünstiger kann es produziert werden. Von vornherein steht eine Produktivitätsmaximierung im Vordergrund, eine Ressourcenschonung oder Umweltschonung, selbst eine Gesundheitsschonung sind zunächst kaum im Programm der Moderne.

      Das absehbare Ende der eigenen Lebenszeit mag in der Unendlichkeit religiös nach einem »Jüngsten Gericht« enden, aber bis dahin scheint es genau die Erfolgsaufgabe dieser Lebenszeit zu sein, die Notwendigkeiten des Tages zu ergreifen und das eigene Leben abzusichern. Besonders die Entwicklung eines anwachsenden Privateigentums gilt als ein Königsweg der Zeitnutzung.

      Die Ereignisgeschichte beschleunigt sich durch die neuen Möglichkeiten zur Zeitkontrolle: Ab jetzt erscheint die Vergangenheit im Rückblick als sehr langsam. Etwa die natürliche Geschwindigkeit von Menschen oder Pferden wird als langsam wahrgenommen, seit die Dampfkraft und die Motorisierung die Welt beherrschen. Die Jahreswechsel und Ernten, die ehernen Rituale der Geburt und Heirat, wie auch festgelegte Feste der Erinnerung bleiben zwar, spielen aber in den Städten und auf den Märkten eine zunehmend geringere Rolle. Früheren Zeiten selbst kultureller Hochentwicklung war diese neue Art Beschleunigung in der Ereignisgeschichte fremd, aber auf dem Boden der langen Zeit, der longue durée vor dem Hintergrund des Anwachsens der Produktion und der Mehrwerte, nimmt die Beschleunigung immer weiter zu.

       Selbstzwänge und instrumentelle Rationalität

      Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte des Kapitalismus geht mit einer veränderten Sozialisation der Menschen einher. Norbert Elias (1976, 1988) hat herausgearbeitet, dass Menschen Selbstzwänge gegenüber Fremdzwängen bevorzugen und in der kapitalistischen Lebensform auch benötigen. Hierbei ist es notwendig, die eigene Lebenszeit

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