Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich

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Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich

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sagt Bauman (2000 b), kennt im Grunde nur zwei mögliche Antworten, um die dabei entstehenden Konflikte im Überleben der Menschen zu bewältigen: Revolutionen als grundsätzliche Veränderung der Ausgangspositionen oder die Entwicklung eines Wohlfahrtsstaates.

      Der erste Weg wurde in lang andauernden sozialen Kämpfen bis hin zu den sozialistischen Ländern beschritten, wobei weder die hohen Ziele sozialer Gerechtigkeit noch zunehmenden Wohlstands für alle bisher erreicht werden konnten. Der zweite Weg wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für die Industrieländer erfolgreich und mündete in die Aufteilung der Welt nach Wohlstands- und Überflussgesellschaften und einen Rest, der große Teile der Menschheit in Armut und Not gelassen sieht.

      Das Zeitalter der großen Industrie ist zugleich ein Zeitalter der Ordnungssuche, in dem kontinuierlich Fortschritt festgehalten und überprüft wird. Diese Ordnung ist nicht natürlich, sondern sie wird gesellschaftlich konstruiert und produziert, sie bildet wie selbstverständlich einen Lebenshintergrund, auf den die Menschen bewusst und intentional zurückgreifen (vgl. Bauman 1993, 4 ff.). Ordnungen entstehen dadurch, dass wir sprachlich in Regeln festhalten, wie wir leben und wie die Dinge unseres Lebens bewertet werden sollen. Sie gehen in die Vorstellungen der longue durée ein. Dabei gelten Ein- und Ausschlüsse, mit denen wir eine Ordnung erzeugen: Besitzend oder besitzlos, reich oder arm, privat oder öffentlich, effektiv genutzte oder verschwendete Zeit, geschützte Wohlstandsgegend oder unsicherer Vorort sind einige dieser Verständigungsleistungen, die etwa festhalten, was in einer Leistungsgesellschaft als Erfolg und was als Misserfolg zu bewerten ist. Als erfolgreich werden im Industriezeitalter allgemein Klarheit der Ziele, Transparenz der Wege, Kontrollierbarkeit der Handlungen, Voraussagbarkeit der Ergebnisse angesehen.

       Der Fordismus als Prototyp kapitalistischen Erfolgs

      Der Fordismus (abgeleitet vom Autofabrikanten Henry Ford), die schwere Industrie und ein »schwerer Kapitalismus«, in dem Kosten und Gewinne klar überprüft werden können, um wachsende Ergebnisse zu erzielen, sind Prototypen einer solchen Moderne. Ihre Bauruinen oder Baudenkmäler mahnen uns heute, dass man in solcher Industrie noch nicht an die Hinterlassenschaften der Produktion und des Konsums dachte: Schadstoffe, Verunreinigungen, Zerstörung ganzer Ökosysteme, das waren immer Begleiterscheinungen der schweren Industrie, wie sie heute im Ruhrgebiet oder im Rust Belt in den USA besichtigt werden können.

      In der kapitalistischen Entwicklung bilden die maschinelle Produktion und der wissenschaftlich-technische Fortschritt Bedingungen, um eine schwere, solide und dynamische Moderne zu gestalten. Sie ist schwer, weil sie in Manufakturen und später Fabriken mit großer Maschinerie konstruiert wird, sie ist solide, weil ihre Materialien gebaut, verschraubt, meist unbeweglich und nur mit Aufwand zerstörbar sind, sie ist dynamisch, weil sie auf festem Boden und klaren Eigentumsverhältnissen basiert, und dennoch dynamisch nach Gewinn und Profit den Wohlstand steigert. Die maschinelle Produktion ermöglicht die wachsende Massenfertigung von Waren aller Art. Die Manufaktur verwandelt sich in eine Fabrik, die Fabriken werden zu komplexen Industrieunternehmen und Konzernen. Alles ist auf solidem Grund gebaut, immer mit privaten Anreizen auf Gewinne versehen, es drückt sich nach Größe der Anlagen, nach Volumen der Bauten aus und benutzt eindrucksvolle Fassaden, um die Gewinne und den wachsenden Reichtum nach außen zu präsentieren. Meist steht die Unternehmensvilla zu Beginn dieser Entwicklung noch in der Nähe der Fabrikgebäude, um die Zugehörigkeit zu demonstrieren. Dagegen sind die Arbeitersiedlungen in serieller und kasernenhafter Wohngestaltung eher ein Abbild der ökonomischen Nutzung und kulturellen Bedeutung der Arbeitskräfte, aber die Arbeitskräfte haben noch ein Bild der materiellen Produktion: Sie sehen den Wohlstand wachsen und entwickeln den Wunsch, an dem soliden Wohlstand teilzuhaben, wobei sie erwarten, dies nach und nach zu erreichen. Soziale Gerechtigkeit wird angesichts der ungleichen Verteilung des Wohlstands zur Dauerherausforderung.

      Die Entwicklungen der Wissenschaften und Technik beschleunigen die Entfaltung der Industrie, dabei verändern sich die Anforderungen an die unterschiedlichen Teilarbeiten. Wiederkehrende Arbeiten, intensivierte Detailverrichtungen, Überwachung und Kontrolle, Erfindung und Qualitätssteigerung, Forschung und Leitung werden voneinander geschieden und wirken in zeitlicher Planung und räumlicher Anordnung dennoch zusammen. In gewissem Rahmen vollzieht sich innerhalb der Moderne mit der Steigerung der Produktivität und des gleichzeitigen gewerkschaftlichen Kampfes einer Begrenzung der Arbeitsintensität aber auch ein kontinuierlicher Wandel, der in einen flexiblen, disponiblen und auch mobilen Einsatz der Arbeitskräfte mit unterschiedlichen Kompetenzgraden mündet. Die Arbeitszeiten konnten dabei deutlich gesenkt und die Urlaubszeiten erweitert werden; soziale Gerechtigkeit wird hier in einen Verteilungskampfverwandelt. Aber der zunehmende Abstand zwischen Arm und Reich zeigt selbst in den reichen Ländern, dass die Gewinne sehr einseitig verteilt werden. Der Übergang in die flüssige Moderne, die sich durch Wanderungen des Kapitals an jene Orte auszeichnet, wo die Gewinne noch einfacher und höher zu erzielen sind, steigert diese Einseitigkeit bis heute immer mehr.

      Karl Polanyis einflussreiches Buch The Great Transformation (1944) analysiert den gesellschaftlichen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts. Er kann die bisherige Analyse, die von Braudel ihren Ausgang nahm, ergänzen helfen.

       Karl Polanyi und die große Transformation

      Am Beispiel der Industrialisierung Englands zeigt er zwei Entwicklungen, die seither die westliche Weltordnung prägen: einerseits das Anwachsen bestimmter Marktformen und ihre Ausweitung in alle Winkel der Erde, was letztlich bis in die Globalisierung führt, andererseits das Erstarken des Nationalen und der Nationalstaaten, die in Wechselwirkung mit den Markterfolgen eine Konkurrenz der Nationen und unterschiedliche nationale Profile des Erfolgs im Wohlstand der Nationen ausdrücken. Die Durchsetzung der Eigentumsmarktgesellschaft, die bereits bei Hobbes und Locke konzipiert wurde (Macpherson 1973), nennt Polanyi die Marktgesellschaft, in der alle natürlichen Substanzen und menschlichen Tätigkeiten in Waren verwandelt werden können. Das individuelle Streben nach Gewinn und Eigennutz in allen Handlungen nimmt auf allen Ebenen zu. Dabei entsteht diese Geschichte nicht im evolutionären Eigenlauf, sondern sie wird durch die Konkurrenz der Nationen ebenso angetrieben wie durch die Konkurrenz kapitalistische Strategien der Gewinnmaximierung. Die Marktwirtschaft führt zu einer Verselbstständigung ihrer Strukturen, die über die Zeit hinweg den wirtschaftlichen Fortschritt mit einer dauerhaften sozialen Ungleichheit verbindet. Zugleich wird von Anbeginn an verhindert, sich mit Fragen von Nachhaltigkeit außerhalb esoterischer Zuwendung zu beschäftigen.

      Die Konkurrenz der Individuen in der Marktgesellschaft bietet auf der Ebene der Ereignisgeschichte genügend Beispiele für Erfolge und Misserfolge, wobei die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit und die Sehnsucht nach Gewinn als durchgehendes Motiv für alle sogar vor die sozialen Beziehungen rückt und diese immer stärker prägt. Um es in heutiger Terminologie auszudrücken, an die Stelle der moralischen Verpflichtung eines Ehebündnisses rückt der Ehevertrag, an die Stelle der moralischen Pflichten der Kinder rücken Erbverträge, da in den Marktverhältnissen auch mit dem Vertragsbruch engster sozialer Beziehungen zu rechnen ist. Ein Tausch mit ungleichen Ergebnissen ist nicht nur im ökonomischen Kapital möglich, sondern betrifft auch das soziale, kulturelle (Bourdieu 1986), das Lern- und Körperkapital (Reich 2018 a), das Naturkapital (Wackernagel et al. 1999). Die Verteilung der Kapitalformen unter den Menschen wirft immer die Frage nach sozialer Gerechtigkeit auf (Reich 2020). Der mit dieser Entwicklung ausufernde Materialismus zeigt sich für Polanyi weniger als materielle Verelendung oder als Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, sondern als grundsätzliche kulturelle und soziale Verwahrlosung. Menschen sprechen viel von Solidarität, aber ihre tatsächlichen gegenseitigen Hilfen und Unterstützungen bleiben stets auf ein überschaubares Maß begrenzt. Heute lässt sich hier nahtlos die nachhaltige Ignoranz anschließen. Sie spiegelt sich in einem Materialismus, der immer allumfassender das menschliche Leben durchdringt (Miller 1987,

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