Meine europäische Familie. Karin Bojs

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Meine europäische Familie - Karin Bojs

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Wissenschaftler können sogar die DNA von Personen untersuchen, die seit Zehntausenden – und in einigen Fällen Hunderttausenden – Jahren tot sind. Eine Analyse, die noch vor zehn Jahren viele Millionen kostete, ist jetzt für ein paar Euro zu haben. Dank der gesunkenen Preise ist diese Technologie auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise angekommen, und sogar Privatpersonen nutzen DNA als Hilfsmittel bei der Familienforschung. Mithilfe kleiner Variationen in der DNA-Sequenz kann man unbekannte Cousinen und Cousins, auch zweiten und dritten Grades, aufspüren und sogar Verwandte, die vor sehr langer Zeit gelebt haben – in der letzten Eiszeit oder noch früher.

      Während der letzten 18 Jahre habe ich als Wissenschaftsjournalistin die Entwicklung der DNA-Technik aus nächster Nähe mitverfolgt, die meiste Zeit als Redakteurin bei der Tageszeitung Dagens Nyheter. Ich habe die Revolutionierung von Kriminaltechnik, medizinischer und biologischer Forschung erlebt sowie den Einzug der DNA-Technologie in die Archäologie und die Geschichtswissenschaft.

      Dieses Buch ist der Versuch, die einzelnen Aspekte miteinander zu verknüpfen: die allerneuesten Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zur Frühgeschichte Europas und meine private Familiengeschichte. Für meine Recherche bin ich in zehn Länder gereist, habe mehrere Hundert wissenschaftlicher Studien gelesen und an die siebzig Forscher befragt.

      Allmählich werden Fäden sichtbar, die meine Urgroßmutter Karolina, meine Großmutter Hilda und meinen Großvater Eric mit lange zurückliegenden Ereignissen verknüpfen. Die meisten dieser Fäden teile ich mit der Mehrheit der europäischen Bevölkerung.

      Beginnen wir mit etwas, das unseren Verwandten in der Nähe des Sees Genezareth vor ungefähr 54.000 Jahren widerfuhr.

       DIE JÄGER

      Annika gebar Märta, die Karin gebar.

      Karin wurde Mutter von Annika, deren Tochter wiederum Karin hieß.

      Karins Tochter war Kajsa, die Karolina zur Tochter bekam.

      Karolina gebar Berta, die Anita gebar.

      Anita gebar Karin.

       DAS TROLLKIND – VOR 54.000 JAHREN

      DIE FRAU, DIE MEINE VERWANDTE WERDEN SOLLTE, ging mit schnellen Schritten den Berg hinab. Sie eilte zum See im Tal hinunter. Heute nennen wir ihn den See Genezareth. Zu jener Zeit war er sehr viel größer. Heutige Geologen haben ihm wegen seiner länglichen Form nachträglich den Namen Lisan gegeben, der Zunge bedeutet. Welchen Namen die Frau und ihre Gruppe für diesen See hatten, wissen wir nicht.

      Sie war jung und schlank, ihr Haar war schwarz und kraus und ihre Haut dunkelbraun. Abgesehen von einer Kordel um die Hüften hatte sie nichts am Leib. Von der Hüftkordel baumelten Ketten aus rot und grün gefärbten Schneckenhäusern herab, die rhythmisch im Takt ihrer Schritte schwangen. Zwischen ihren nackten Brüsten hing ein Amulett an einem Lederriemen – eine kleine Vogelfigur aus Gazellenhorn.

      Oben auf dem Berg war die Frau einem Mann begegnet. Sein Samen war jetzt in ihrem Unterleib.

      Der Mann war ungefähr so groß wie die Frau, aber sehr viel schwerer und kräftiger. Es ist möglich, dass er bei ihrer Begegnung Gewalt anwendete, wogegen sie sich schwerlich hätte wehren können. Sein Gesicht ähnelte nicht den Gesichtern der Menschen, die die Frau bisher getroffen hatte. Seine Nase war viel größer und breiter und das ganze Gesicht wirkte wie nach vorn geschoben.

      Seine Augen waren braun, genau wie ihre, aber seine Haut war heller und sein Haar hing glatt herab. Vor allem roch er sonderbar. Das merkte sie erst, als er ihr sehr nahe kam. Er besaß einen stechenden, fremden Geruch.

      Obwohl der Mann und die Frau so verschieden waren, wuchs ein Kind im Körper der Frau heran. Als die Zeit der Geburt nahte, war es Winter geworden. Ihre kleine Gruppe hielt sich immer noch am Strand des Sees Lisan auf, aber sie waren viele Kilometer weiter nach Süden gewandert, zurück in Richtung des alten Landes, aus dem sie gekommen waren. Sie errichteten an einer Felswand einige einfache Unterstände und hofften, von den Geschöpfen, die offenbar in dem neuen Land lebten, in Frieden gelassen zu werden. Den Anderen. Oder den Trollen, wie sie sie auch manchmal nannten.

      Es fiel ein kühler Regen. Keine roten Tulpen standen mehr an den Berghängen, nur einige trockene Disteln säumten noch das Seeufer.

      Die Geburt war schwierig, aber sowohl die Frau als auch das Kind überlebten. Es war ein Junge – ein ungewöhnlich großer und kräftiger Junge. Meine Verwandte wickelte ihn in eine Gazellenhaut und legte ihn vorsichtig auf ein Bett aus trockenen Grashalmen.

      Nach drei Tagen hielt die Schamanin eine Zeremonie ab. Sie tanzte wild, bis sie Kontakt zu den Göttern hergestellt hatte. Währenddessen saß der Rest der Gruppe rund um das Feuer und sang. Als die Schamanin aus der Welt der Götter zurückkehrte, hatte sie einiges über die Zukunft des Kindes zu berichten. Sie sagte, dass der Junge viele Nachkommen haben werde. Sie würden in alle Himmelsrichtungen wandern und sich über alle Gegenden verbreiten, ohne Ende. „Er soll der Sohn der Götter heißen und die Götter sollen dir Kraft geben, damit du ihn aufziehen kannst“, sagte die Schamanin zu der jungen Mutter.

      So sprach sie sonst niemals über Neugeborene. Aber die Schamanin war eine kluge Frau. Sie erkannte, dass die Frau, die meine Verwandte werden sollte, einen besonderen Auftrag brauchte, wenn das Kind überleben sollte. Die Gruppe durfte keine Kinder mehr verlieren, sonst hätten sie in dem neuen Land keine Zukunft.

      Glücklicherweise erwies sich der Junge als gesund und kräftig. Er aß mit gutem Appetit. Nach der Muttermilch bekam er geschabtes Fleisch und Kräuter. Er trank das Wasser aus den Bächen und bekam nicht einmal Bauchschmerzen.

      Doch er sah nicht so aus wie andere Kinder. Seine Haut war heller. Sein Kinn war kleiner und fiel schräg zum Hals hin ab. Seine Augenbrauen waren kräftiger. Als sein Haar länger wurde, hing es glatt herunter. Hinter dem Rücken der Mutter nannten die Mitglieder der Gruppe das Kind „das Trolljunge“. Sie sagten es liebevoll, doch sie hegten ihre eigenen Vermutungen über seine Herkunft.

      Allmählich wagten sie sich wieder in die Berge im Norden zurück, trotz der Anderen. Die Gegend, die wir heute Galiläa nennen, bot günstige Lebensbedingungen – sie war reich an Gazellen und Auerochsen und anderem Wild. Sie fanden eine schöne große Kalksteinhöhle, die ihnen im Winter Schutz bot.

      Nur selten bekamen sie einen der Anderen zu Gesicht und fast immer nur aus großer Entfernung. Ab und zu kamen sie in Hörweite. Die Anderen redeten seltsam und ihre Sprache war völlig unverständlich. Ihrer Kleidung fehlte jeder Schmuck.

      Der Trolljunge begann erst spät zu sprechen und interessierte sich nicht wie die anderen Kinder für Geschichten. Aber er konnte mindestens genauso gut mit Feuerstein, Holz und Häuten umgehen wie seine Altersgenossen. Man brauchte ihm nur zu zeigen, wie er es machen sollte.

      Um diese Zeit wurden die Winter ungewöhnlich kalt, nass und hart. Viele Kleinkinder wurden krank, einige starben. Aber der Trolljunge wuchs und wurde immer stärker.

      Die Gruppe kümmerte sich gut um ihn. Sie bedachten ihn mit besonderer Fürsorge, wie immer bei denen, die ein bisschen anders waren. Außerdem – aber das sagten sie niemals laut – befürchteten sie, dass jemand kommen und ihn ihnen wegnehmen könnte.

      Einige Jahre später starb die Frau, ohne etwas über den Mann verraten zu haben, dem sie an jenem Frühlingstag begegnet war, als die Tulpen an den Berghängen rot blühten.

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