Meine europäische Familie. Karin Bojs
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Oder wie eine junge Studentin zu ihrem Professor sagte: „Wenn sie zusammen Kinder haben wollten, müssen sie sich ja schon ziemlich lange gekannt haben.“ Wie so viele andere ging auch sie von ihrer eigenen Anschauung von Sex und Moral aus.
Der betreffende Professor heißt Jean-Jacques Hublin und ist Leiter der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Seiner Meinung nach waren die Begegnungen zwischen Neandertalern und modernen Menschen innerhalb von zwei Minuten vorbei. Er glaubt, dass sie aus Verzweiflung handelten.
Hublins Büro liegt ein Stockwerk tiefer als Svante Pääbos und auch dieser Raum wird von einem Neandertaler dominiert. Dieses Exemplar hat ein bisschen mehr Fleisch auf den Rippen: Es ist eine Büste aus weißem Gips, bei der alle Muskeln gewissenhaft rekonstruiert wurden. Die Büste wurde schon in den 1920er-Jahren auf der Grundlage des damaligen Kenntnisstandes hergestellt und stimmt in allen wesentlichen Punkten auch mit den neuesten Forschungsergebnissen überein.
Als ich mir das vorspringende Gesicht mit der breiten Nase anschaue, wird mir noch deutlicher bewusst, wie groß der Unterschied zwischen den Neandertalern und uns war. In meiner einleitenden Erzählung von der geschwängerten Frau in Galiläa habe ich die Neandertaler mit Trollen verglichen, wie sie in unseren Volkserzählungen vorkommen. Nicht, dass ich es für besonders wahrscheinlich halte, dass unsere Mythen über Trolle in vierzigtausend Jahre alten Beobachtungen wurzeln, doch wenn man sich eine Begegnung mit einem großen Troll vorstellt, wird das Bild besser fassbar. Die Neandertaler waren uns viel ähnlicher als heutige Schimpansen, dennoch war der Abstand zu ihnen groß.
„Ich glaube nicht, dass moderne Menschen und Neandertaler sich mochten, sondern dass sie einander mieden, wo sie konnten“, sagt Jean-Jacques Hublin.
Seine wissenschaftliche Disziplin, die Paläontologie, versucht mithilfe von fossilen Knochenfunden zu rekonstruieren, was vor Tausenden von Jahren geschah. Diese Disziplin hat zwangsläufig mit vielen Unwägbarkeiten zu kämpfen. Die führenden Paläontologen der Welt vertreten in der Frage, wie moderne Menschen und Neandertaler sich unterschieden und wie die Begegnungen zwischen den zwei Gruppen abliefen, teilweise divergierende Ansichten. Wo sich die Geister scheiden, halte ich mich an Jean-Jacques Hublin. Seine Stellung im Max-Planck-Institut verschafft ihm eine einzigartige Position. Dank seiner engen Zusammenarbeit mit DNA-Forschern, Affenforschern, Archäologen und Anthropologen kann er die Informationen aus den alten Knochen jederzeit auf den aktuellsten Stand bringen.
Die ältesten Funde sogenannter „anatomisch moderner Menschen“ außerhalb von Afrika wurden in Israel gemacht und sind bis zu 120.000 Jahre alt. Doch Hublin betont, dass diese frühen Menschen sich noch nicht so weit entwickelt hatten, dass sie uns glichen. Wahrscheinlich starben sie aus, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Erst vor ungefähr 55.000 Jahren folgte eine neue Auswanderungswelle aus Afrika (oder vielleicht von der arabischen Halbinsel). Dies waren fast schon moderne Menschen mit allem, was das für ihre Skelettform und ihre Fähigkeiten bedeutete. In der Manothöhle im Westen Galiläas haben israelische Wissenschaftler einen Schädel dieser Menschengruppe gefunden.
Als diese modernen Menschen aus Afrika auswanderten, trafen sie als Erstes auf Neandertaler. Deren Überreste wurden in der Amudhöhle in den Bergen oberhalb des Sees Genezareth gefunden, nur vierzig Kilometer östlich der Manothöhle.
Jean-Jacques Hublin unterstreicht, wie dünn bevölkert Europa und Asien zu jener Zeit waren. Nur wenige moderne Menschen wanderten ein, und die Neandertaler waren bereits vorher stark in Bedrängnis. Die beiden Gruppen werden sich nicht bei den Wasserläufen zum geselligen Beisammensein getroffen, sondern einander viel eher aus der Ferne beobachtet haben. In einigen Fällen kam es zu sexuellen Begegnungen. Einige wenige Bastarde wurden geboren. Bald darauf starben die Neandertaler aus, zuerst im Nahen Osten und später in Kaukasien, Sibirien und Europa.
Jean-Jacques Hublin ist fest davon überzeugt, dass unsere Ankunft der Grund dafür war. Mit überlegenen Jagdmethoden und unserer größeren Mobilität setzten wir uns gegen die Neandertaler durch. Vielleicht töteten wir sie aber auch einfach. Einige Forscher weisen auf andere denkbare Erklärungen hin, wie zum Beispiel dass wir mit Kälteperioden und Vulkanausbrüchen besser zurechtkamen, weil wir uns besser darauf verstanden, aus Fellen warme Bekleidung zu nähen. Hublin hält all diese Begründungen für vorgeschoben. Die Neandertaler hatten Eiszeiten und Kälteeinbrüche über Hundertausende von Jahren überlebt. Manchmal waren sie kräftig dezimiert worden, aber wenn das Klima sich erwärmte, erholten sie sich wieder. Bis wir kamen. Laut Jean-Jacques Hublin sind die alternativen Erklärungen nur entstanden, damit wir der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen müssen: Wir haben schlicht und einfach eine ganze Menschengruppe ausgerottet. Die Neandertaler hatten mehrere Hunderttausend Jahre lang in Europa und Asien gelebt, bis wir kamen und sie ablösten. (Als der Mensch später in Asien weiter nach Osten wanderte, kam es noch mindestens zweimal zu vergleichbaren Phänomenen. Bei unserem Auftauchen verschwanden sowohl der Denisova-Mensch als auch der zwergenhafte Flores-Mensch auf der indonesischen Insel Flores.)
Zwar waren die Neandertaler körperlich stärker als wir, doch waren wir ihnen auf anderen Gebieten überlegen. Vermutlich konnten wir besser sprechen, wovon unsere leicht abweichenden FOXP2-Gene zeugen. Die Sprache erleichterte uns die Unterhaltung größerer Netzwerke mit stabileren Verbindungen. Funde von Schneckenhäusern und seltenen Steinen belegen, dass moderne Menschen Netzwerke besaßen, die sich über fünfhundert Kilometer erstreckten, während die Neandertaler Gegenstände nur über deutlich kürzere Entfernungen austauschten.
Einzelfunde deuten darauf hin, dass Neandertaler ihre Toten begruben. Doch auch Schimpansen decken manchmal ihre Toten mit Zweigen und Ästen zu. Dass die Neandertaler Blumen in die Gräber gelegt haben sollen – eine These, die aufgrund eines Fundes im Irak aufgestellt wurde –, ist höchst umstritten. Demgegenüber gibt es zahlreiche Funde, die klar belegen, dass moderne Menschen ihre Toten sorgfältig begruben und ihnen Grabbeigaben mitgaben.
Ein großer und deutlicher Unterschied zu den Neandertalern besteht darin, dass moderne Menschen Musikinstrumente verwendeten und gegenständliche Kunstwerke herstellten. Zwar gibt es einige einfache Strichmuster, die von Neandertalern in Spanien geritzt worden sein könnten und sogar von noch früheren Urmenschen auf Java, doch Kunst, die Tiere, Menschen und Fantasiefiguren darstellt, entstand erst mit uns modernen Menschen.
Die ältesten Beispiele von Musikinstrumenten und gegenständlicher Kunst in der Welt sind in Europa gefunden worden. Tatsache ist, dass meine eigenen Verwandten – in direkter mütterlicher Abstammungslinie – dabei waren, als musizierende, künstlerische, anatomisch moderne Menschen Europa erstmals kolonisierten. Das verrät uns die DNA-Technik.
Ein Jahr nach meiner ersten Begegnung mit Svante Pääbo unternahm ich eine Reportagereise nach Island und besuchte das Unternehmen Decode in Reykjavík. Dort interviewte ich Kári Stefánsson, einen weiteren Pionier der DNA-Forschung. Er baute gerade das Genforschungsunternehmen Decode auf, das hier unter besonderen Bedingungen arbeitet: Zum einen ist Island eine Insel, auf der die Menschen immer relativ isoliert gelebt haben. Zum anderen sind viele Isländer an Familienforschung interessiert. Einige können ihre Abstammung bis in das 9. Jahrhundert zurückverfolgen, als die Insel erstmals besiedelt wurde.
Kári Stefánsson war damals ein großer, blonder und auffallend gut aussehender Mann in den Fünfzigern. Ihn zu interviewen war etwas Besonderes, wie auch andere Journalisten bestätigen. Seine Masche ist es, sich anfangs besonders unverschämt zu verhalten. Wenn er dann den Eindruck gewinnt, dass der Journalist seinen Anforderungen entspricht, wechselt er die Strategie und wird freundlich und offenherzig.
Glücklicherweise