Meine europäische Familie. Karin Bojs
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Hohle Fels ist nicht einfach nur eine kleine Höhle, in der Menschen gewohnt haben. Mein Begleiter hat mich darauf vorbereitet, dass ich etwas zu sehen bekommen werde, was er als die „Kathedrale der Eiszeit“ bezeichnet. Die Halle übertrifft in der Tat alle meine Erwartungen. Der Berg öffnet sich zu einem großen Saal, der tatsächlich an einen mittelalterlichen Kirchenraum erinnert. Aus den Nischen an den Wänden fällt schwaches Licht. Die Lampen sind zwar elektrisch, doch ähnelt ihr Schein vermutlich dem der Fackeln, die die Menschen während der Eiszeit benutzten.
Der junge Forscher aus Tübingen und ich gehen andächtig durch die Höhle und bewundern den großen Saal. Man kann einen Absatz erklimmen wie in einem Amphitheater. Plötzlich hören wir die klaren Töne einer Flöte: Unser Höhlenführer spielt über eine Lautsprecheranlage eine Aufnahme ab. Die Akustik in der großen Halle ist ganz außergewöhnlich.
So hat es also geklungen, wenn meine Verwandten ihre Zeremonien abhielten.
Die Flöte in der Tonaufnahme ist eine aus Mammutelfenbein gefertigte Rekonstruktion. Solches Elfenbein von ausgestorbenen sibirischen Mammuts, die im Permafrostboden konserviert waren, kann man auch heute noch ganz legal kaufen.
Deutsche Archäologen haben Fragmente von insgesamt acht Flöten im Hohle Fels und den nahe gelegenen Höhlen Geißenklösterle und Vogelherd gefunden. Im Urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren kann man sich den Klang der Nachbauten anhören.
Vier der Flöten sind aus Flügelknochen von Vögeln gemacht. Sie erzeugen einen hohlen Ton, ungefähr als blase man in eine Flasche. Knochen von Schwänen bringen hellere Töne hervor, die gröberen Knochen von Geiern dunklere.
Eine Flöte aus einem hohlen Vogelknochen herzustellen mag erst einmal nicht besonders schwierig erscheinen. Man braucht den Knochen nur zuzuschneiden und an den passenden Stellen Löcher hineinzubohren. Wirklich überwältigend sind jedoch die vier Flöten aus Elfenbein. Ihr Klang ist beinahe genauso klar und rein wie der einer Silberflöte. Um eine Flöte aus einem so harten Material wie Elfenbein zu schnitzen, muss man sehr geschickt sein. Man muss dafür den Stoßzahn des Mammuts in zwei Hälften spalten, diese aushöhlen und dann wieder absolut luftdicht zusammenfügen. Vermutlich benutzten die Menschen des Aurignacien dafür Harz als Klebstoff. Die Anordnung der Löcher lässt erahnen, wie die Musik geklungen haben muss.
Sicher haben wir Menschen schon sehr früh gesungen und getanzt, lange bevor wir den afrikanischen Kontinent verließen. Die Flöten aus Hohle Fels sind jedoch die ältesten gesicherten Funde von Musikinstrumenten. Zwar beteuern Forscher in Slowenien, einen noch älteren Vogelknochen mit Löchern entdeckt zu haben, wobei es sich ihnen zufolge um eine von Neandertalern hergestellte Flöte handelt, doch ist dieser Fund umstritten. Fast alle anderen Wissenschaftler stehen ihm skeptisch gegenüber. Sie sind der Überzeugung, dass die Löcher in dem slowenischen Knochen auf natürliche Weise entstanden sind, zum Beispiel durch den Biss einer Hyäne.
Darüber, dass die Menschen des Aurignacien auf der Schwäbischen Alb Flöte spielten, herrscht jedoch Einvernehmen.
Sie kannten nicht nur Musik, sondern erschufen auch Statuetten. Bislang wurden von Archäologen auf der Schwäbischen Alb an die fünfzig kleine Figuren gefunden, die kunstvoll in Elfenbein und Stein gearbeitet sind.
Die größte ist der Löwenmensch aus der Höhle Stadel, auch Hohlenstein-Stadel genannt, eine Elfenbeinfigur mit dem Kopf eines Löwen und dem Körper eines Mannes. Sie entstand vor beinahe 40.000 Jahren und war ursprünglich circa 30 Zentimeter groß.
Ein moderner Nachbau hat erbracht, dass eine geschickte und erfahrene Person für die Herstellung des Löwenmenschen ungefähr sechs Wochen gebraucht haben muss, wenn sie den ganzen Tag daran arbeitete, solange das Tageslicht ausreichte.
In Hohle Fels, der Eiszeitkathedrale, haben Archäologen einen kleineren Löwenmenschen gefunden, der einfacher gearbeitet und nur 2,5 Zentimeter groß ist. Unter den weiteren Funden aus der gleichen Höhle befindet sich ein kleiner Wasservogel aus Elfenbein, vielleicht ein Seetaucher, und eine überaus üppige Frauenfigur. Sie ist noch älter als der Löwenmensch und hat den Namen „Venus vom Hohle Fels“ erhalten. Ihre Brüste sind riesig und ihre Geschlechtsorgane sind deutlich mit einer Spalte zwischen den Beinen kenntlich gemacht.
Für einen Nomaden, der ständig seinen Wohnplatz wechselte, war es praktisch, wenn die Kunstgegenstände klein und handlich waren und dadurch leicht zu transportieren. Wofür genau sie verwendet wurden, wissen wir nicht. Allerdings braucht man nicht besonders viel Fantasie, um Verbindungen zwischen diesen Kunstwerken und schamanistischen Glaubensvorstellungen zu erkennen, die die Ethnologen in den letzten einhundertfünfzig Jahren unter anderem bei den schwedischen Samen, sibirischen Nomaden, nordamerikanischen Indianern und südafrikanischen Buschmännern studiert haben.
Die größten und gefährlichsten Raubtiere, die unsere Verwandten auf der Schwäbischen Alb bedrohten, waren die Höhlenlöwen. Mit Sicherheit hatten die Menschen Angst vor ihnen, während sie gleichzeitig ihre Stärke und Schnelligkeit bewunderten. Es gibt viele Schilderungen, wie Schamanen, oftmals mithilfe von Masken, in ihren Zeremonien die Gestalt eines Tieres annehmen. Dass auch Höhlenlöwen zu ihrem Repertoire gehörten, liegt da recht nahe.
Seevögeln kommt im schamanistischen Weltbild ebenfalls eine besondere Rolle zu. Sie haben nämlich die Fähigkeit, die drei Ebenen des Universums zu durchdringen: Sie können fliegend den Himmel erreichen, sie können auf der Erde laufen wie die Menschen und sie können in der Tiefe des Wassers bis in die Unterwelt tauchen.
Die üppigen Frauenfiguren kommen während der ganzen Eiszeit, also über einen Zeitraum von fast 30.000 Jahren, in Europa und in Sibirien vor. Womöglich waren sie Bestandteil weiblicher Riten um Fruchtbarkeit und Geburt. Das glaubt zumindest Jill Cook, Kuratorin für die Kunst der Steinzeit am British Museum in London.
Nicholas Conard, Professor für Archäologie an der Universität Tübingen und hauptverantwortlich für die Grabungen in Hohle Fels, sieht das etwas anders. Er möchte die Bedeutung der Frauenfiguren erweitern und sie als umfassenderes Fruchtbarkeitssymbol verstehen, das die gesamte Natur und die wilden Tiere, die Jagdbeute der Menschen, einschließt.
Er schlug vor, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel solle eine Kopie der Venus vom Hohle Fels als Halsschmuck tragen. Bisher hat sie abgelehnt. Die deutlich markierten Geschlechtsorgane sind in den Kreisen, in denen sie sich bewegt, vielleicht doch etwas zu provokant.
Einige der Kunstobjekte von der Schwäbischen Alb sind älter als jede andere gegenständliche Kunst der Welt. Zwar kennt man nicht-figurative Motive, die diese altersmäßig um Zehntausende Jahre übertreffen, unter anderem Zickzackmuster auf Steinen in Blombos/Südafrika, die auf mindestens 75.000 Jahre datiert wurden. Doch die Figuren aus den süddeutschen Höhlen beweisen, dass die Menschen in Europa schon vor gut 40.000 Jahren sowohl Wesen darstellen konnten, die es wirklich gab, wie den Seevogel, als auch solche, die ihrer Fantasie entsprangen, wie die Löwenmenschen. Dafür müssen sie mentale Fähigkeiten besessen haben, die den unseren entsprachen.
Nicholas Conard provoziert mit seiner These, dass die gegenständliche Kunst in dem Augenblick entstand, in dem die modernen Menschen das heutige Deutschland erreichten. Danach hätten neue Schwierigkeiten wie kaltes Klima und die Konkurrenz mit Gruppen, die bereits vorher hier lebten, bis dahin ungenutzte Fähigkeiten hervorgerufen. Er räumt ein, dass später an anderen Orten auch gegenständliche Kunst erfunden wurde, doch seien die Menschen