Meine europäische Familie. Karin Bojs
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Dass die ältesten gegenständlichen Kunstwerke und Musikinstrumente in Deutschland gefunden wurden, könnte ja auch daran liegen, dass die Archäologen dort intensiver danach gesucht haben als irgendwo sonst. Das war jedenfalls meine Vermutung, als ich Nicholas Conard im Herbst 2013 in Tübingen traf.
Ein Jahr nach meinem Besuch gibt es starke Indizien dafür, dass er sich irrte. Eine international zusammengesetzte Gruppe von Forschern veröffentlichte neue Datierungen von Höhlenmalereien auf der indonesischen Insel Sulawesi. Es stellte sich heraus, dass die ältesten Malereien dort um die 40.000 Jahre alt sind – also ungefähr so alt wie die ältesten Bilder in europäischen Höhlen und wie die ältesten Statuetten aus Schwaben.
Als ich Nicholas Conard um eine Stellungnahme zu den neuen Datierungen bitte, räumt er ein, dass Menschen auf der anderen Seite der Erde genauso frühzeitig Kunst schaffen konnten wie in den schwäbischen Höhlen. Aber er beharrt darauf, dass die indonesische und die schwäbische Kunst sich parallel und völlig unabhängig voneinander entwickelt haben könnten. Mit dieser Auffassung steht er mittlerweile unter den führenden Experten für die Entwicklung des Menschen weitgehend allein da. Die Mehrheit glaubt, dass wir Kunst und Musik schon im Gepäck hatten, als wir vor ungefähr 55.000 Jahren Afrika verließen. Die Kultur begleitete uns dann auf unseren Wanderungen, nach Osten wie nach Westen.
Dennoch bin ich überzeugt, dass Nicholas Conard auf einen wichtigen Aspekt hinweist, wenn er sagt, dass Kunst und Musik für den Zusammenhalt und die Überlebensfähigkeit unserer frühen Verwandten eine entscheidende Rolle spielten. Allerdings glaube ich, dass das für Afrika und Europa genauso gilt wie für andere Erdteile. Kreativität und künstlerische Begabung waren für unser Überleben von so fundamentaler Bedeutung, dass diese Fähigkeiten in unseren Genen verankert sind – obwohl sie auch eine Schattenseite haben.
Sich mithilfe von Kunst, Musik und Erzählungen auszudrücken gehört zu den wichtigsten Triebkräften der Menschheit. So war es während der Eiszeit und so ist es noch heute. Doch einige von uns bezahlen einen hohen Preis für das Vorhandensein dieser Diposition beim Menschen.
Fähigkeiten wie Malen, Musizieren und Geschichtenerzählen sind teilweise erblich. Familien, in denen sich solche Begabungen häufen, zeigen gleichzeitig auch eine Häufung von bipolaren Störungen und Psychosen wie Schizophrenie.
Beide Krankheiten kommen bei ungefähr einem Prozent der Bevölkerung vor, und zwar in allen untersuchten Ländern. Die Betroffenen werden durch ihre Erkrankung teilweise stark eingeschränkt. Im Falle der Schizophrenie haben Verwandte der Erkrankten oft Erfolge als Künstler oder Musiker aufzuweisen. Das gilt jedoch leider nicht für die Betroffenen selbst, weil deren Leistungsfähigkeit deutlich herabgesetzt ist. Menschen mit einer bipolaren Störung sind hingegen oft in kreativen Berufen erfolgreich, ebenso wie ihre Familienmitglieder.
Einer der Ersten, die diesen Zusammenhang erkannten, war der isländische Wissenschaftler Jon Love Karlsson, der schon 1970 eine bahnbrechende Studie publizierte. Heutigen wissenschaftlichen Anforderungen würden seine Methoden nicht genügen. Er stützte sich auf die gründlich dokumentierte isländische Familienforschung – vermutlich die vollständigste der Welt, wie bereits im vorigen Kapitel beschrieben. Diese Daten verglich er mit Patientenregistern aus der psychiatrischen Klinik in Reykjavík und mit der isländischen Version des Who’s who.
Jon Karlsson glaubte, dass das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, von nur zwei Genen abhängig sei. Heute hat die DNA-Forschung bewiesen, dass es sich eher um Hunderte von Genen handelt, außerdem um unbekannte Umweltfaktoren. Der Zusammenhang zwischen Kreativität und psychotischen Erkrankungen wurde jedoch tatsächlich bestätigt, auch von den aktuellsten, umfangreichsten und solidesten Studien.
Einige der beteiligten Genvarianten entstehen als neue Mutationen bei der Zeugung. Diese jüngsten Erkenntnisse haben die Forschung zu Schizophrenie und einigen anderen psychischen Krankheiten revolutioniert. Diese Berechnungen zu neuen Mutationen spielen auch bei der Nutzung der DNA für die Familienforschung und in der Forschung zur Geschichte des Menschen eine entscheidende Rolle. Weiß man, wie viele Mutationen statistisch bei jedem neugeborenen Kind auftreten, kann man errechnen, mit welcher Geschwindigkeit die Evolution des Menschen verläuft. Man kann sozusagen die Uhr stellen – den zeitlichen Verlauf der Evolution messen.
Auch in diesem Fall geschah der erste große Durchbruch in Island. Die neue DNA-Technik ermöglichte es einer Gruppe isländischer Wissenschaftler im Jahr 2012, Eltern und Kinder aus 78 Familien miteinander zu vergleichen. Dadurch konnten die Forscher eine Theorie erhärten, nach der das Risiko für Schizophrenie wächst, je älter der Vater des Kindes bei der Zeugung ist. Das ist darauf zurückzuführen, dass Spermien von älteren Vätern eine größere Anzahl mutierter Gene enthalten. Mindestens genauso richtungsweisend war, dass die Isländer angeben konnten, mit wie vielen Mutationen jedes Kind geboren wird, nämlich im Durchschnitt mit circa dreißig von der Mutter und ebenso vielen vom Vater, wenn der um die dreißig Jahre alt ist. Ist der Vater an die sechzig Jahre alt, erhöht sich die Anzahl der Mutationen von seiner Seite auf ungefähr sechzig.
Svante Pääbos Forschergruppe in Leipzig hat versucht, die Häufigkeit von Mutationen auf andere Art zu berechnen. Sie verglichen DNA aus fossilen Skeletten mit DNA heutiger Menschen. Früher war es schwierig, die Erkenntnisse aus Island mit den Schätzungen zur Veränderung der DNA im Laufe der Evolution unter einen Hut zu bringen, weil die beiden Methoden zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Man könnte sagen, dass die Uhren der Forscher ganz unterschiedlich tickten. Doch im Herbst 2014 veröffentlichten Svante Pääbo und seine Kollegen DNA-Analysen eines 45.000 Jahre alten Mannes, der an einem Ort namens Ust’-Ishim im westlichen Sibirien gelebt hatte. Er war der älteste moderne Mensch, dessen DNA jemals untersucht wurde, und damit der beste Vergleich, um die DNA-Uhr zu kalibrieren.
Zwar bestehen weiterhin einige Unsicherheitsfaktoren, unter anderem, weil wir nicht genau wissen, in welchem Alter unsere Vorfahren ihre Kinder bekamen, doch stimmen die Resultate der beiden Untersuchungsmethoden jetzt deutlich besser überein. Wir können damit rechnen, dass jeder Mensch, der geboren wird, von seinen beiden Elternteilen jeweils ungefähr dreißig Mutationen mitbekommt. Hat man Pech, können diese Mutationen ungünstig liegen und zur Entstehung von Krankheiten wie Schizophrenie oder manisch-depressiven Erkrankungen beitragen.
Neue Mutationen machen also einen Teil des Risikos für diese psychischen Erkrankungen aus. Es gibt aber auch viele Genvarianten, die offenbar erblich sind. Sie werden von Eltern, Großeltern und von früheren Generationen weitergegeben. Solche Genvarianten haben in der Menschheit fußgefasst, obwohl Psychosen große Nachteile mit sich bringen. Sie verringern die Überlebenschancen und zumindest die Schizophrenie verschlechtert die Aussichten der Betroffenen, eigene Kinder zu bekommen.
Dass diese Gene trotzdem weitergegeben werden, kann nur daran liegen, dass sie auch Vorteile bieten.
Wer psychische Erkrankungen in der Familie hat, kann sich mit den doppelten Auswirkungen der psychotischen Erbanlagen trösten. Natürlich bedeuten solche Krankheiten eine Behinderung und oftmals eine große Belastung sowohl für den Betroffenen als auch für dessen Angehörige. Aber die mit ihnen verbundene Kreativität und zusätzliche Energie ist auch ein Geschenk. Im Laufe der Geschichte des Menschen sind diese Erbanlagen eine große Bereicherung gewesen. Sicher waren sie für unsere Entwicklung geradezu unverzichtbar.
Davon bin ich überzeugt.
DIE ERSTEN IN EUROPA
SCHON