Meine europäische Familie. Karin Bojs
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Schon 1987 war die Technik also ausgereift genug, um der mitochondrialen „Eva“ auf die Spur zu kommen, auch wenn die Arbeitsmethoden aus heutiger Perspektive äußerst umständlich anmuten. Die jungen Wissenschaftler in Allan Wilsons Labor besuchten Entbindungsstationen in Kalifornien und sammelten Mutterkuchen von Frauen aus unterschiedlichen Teilen der Welt ein. Mühevoll extrahierten sie daraus die DNA und berechneten die Resultate mit ihren primitiven Computern.
Linda Vigilant, die heute mit Svante Pääbo verheiratet ist, war Doktorandin bei Allan Wilson. Sie führte einige Jahre später eine Folgestudie zur mitochondrialen „Eva“ durch. Die Computer waren immer noch so leistungsschwach und langsam, dass die Berechnungen eine Woche dauerten. Aber die DNA-Technik hatte große Fortschritte gemacht. Ein kalifornischer Wissenschaftler hatte eine Kopiermethode entwickelt, die PCR genannt wird und einige Jahre später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Mithilfe dieser Kopiermethode konnten die Wissenschaftler nun statt der Mutterkuchen einzelne Haare als Arbeitsmaterial nutzen. Anthropologen in verschiedenen Erdteilen halfen bei der Beschaffung von Haaren aller möglichen Ethnien. Und die Ergebnisse der ersten Studie bestätigten sich: Vor ungefähr 200.000 Jahren lebte in Afrika eine Frau, von der alle heute lebenden Menschen abstammen. Sie ist unser aller gemeinsame Urahne.
Einige Jahre später, 1995, konnten amerikanische Wissenschaftler Erkenntnisse über das männliche Gegenstück der mitochondrialen „Eva“ veröffentlichen. Es wird „Adam des Y-Chromosoms“ genannt. Die verbesserte DNA-Technik und die immer leistungsfähigeren Computer hatten es ermöglicht, Y-Chromosomen von Männern aus verschiedenen Erdteilen zu vergleichen. Y-Chromosomen enthalten sehr viel mehr DNA als Mitochondrien und werden nur vom Vater auf den Sohn vererbt. Sie können also nur für Stammbäume in der direkten männlichen Linie verwendet werden. Die Ergebnisse zeigen, dass vor ungefähr 200.000 Jahren ein Mann lebte, der der Urahn aller heute lebenden Männer war. Auch dieser Adam des Y-Chromosoms lebte in Afrika.
Damit war die Sache klar. Die Multiregionale Hypothese war tot. Die Wiege des modernen Menschen stand in Afrika.
Die DNA-Technik verbesserte sich stetig. Nicht zuletzt von Svante Pääbo selbst wurden Schritt für Schritt Methoden entwickelt, mit denen man mehrere Tausend Jahre alte Proben analysieren kann. Bei der Untersuchung fossiler Tiere lernte er, die Proben sauber zu halten. Die Schwierigkeit bestand darin, Verunreinigungen durch Staub, alte Bakterien und durch die Berührung heutiger Menschen zu vermeiden.
Nach seiner Zeit in Kalifornien erhielt er einen Ruf als Professor an ein zoologisches Institut in München. Dort schärfte er seinen zwei Doktoranden ein, das Labor jede Nacht mit ultraviolettem Licht zu bestrahlen, sich jeden Morgen auf direktem Wege zu ihrem Speziallabor zu begeben, ohne andere Labors mit DNA-Proben zu durchqueren, sowie zahlreiche weitere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.
Im Sommer 1997 veröffentlichte Svante Pääbo eine DNA-Analyse des berühmtesten Neandertalers der Welt – eben jenes Skeletts, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Neandertal gefunden worden war und allen Neandertalern ihren Namen gegeben hatte. Dieses Mal waren die Resultate viel verlässlicher als die der alten Mumie zwölf Jahre zuvor.
Die Analyse basierte auf Mitochondrien-DNA und lieferte den eindeutigen Beweis, dass die Neandertaler nicht die Vorgänger der modernen Europäer gewesen sein können. Wir sind nicht ihre Urenkel, zumindest nicht in direkter mütterlicher Abstammungslinie. Unseren Verwandtschaftsgrad könnte man eher mit zwei Gruppen Cousinen vergleichen, die vor sehr viel längerer Zeit aus einem gemeinsamen Ursprung hervorgegangen sind.
Diese Studie erlangte weithin große Beachtung. Svante Pääbo wurde zum Stern am Wissenschaftshimmel, vor allem in Deutschland, wo die Neandertaler seit ihrer Entdeckung im 19. Jahrhundert einen ganz besonderen Status besaßen.
Leider muss ich zugeben, dass ich die Nachricht von dieser bahnbrechenden Studie verpasst habe. Nur wenige Monate vorher hatte ich als Wissenschaftsredakteurin bei der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter angefangen. Noch kannte ich nicht alle Zeitschriften, die ein Wissenschaftsredakteur im Blick haben muss, und ich stand auch nicht in den entsprechenden Verteilern, um Informationen aus erster Hand zu bekommen oder zu Pressekonferenzen eingeladen zu werden.
Doch traf ich Svante Pääbo einige Wochen später in Oslo bei einem Seminar über die neue Gentechnik und bei einem gemeinsamen Abendessen wurde mein Interesse für sein Forschungsgebiet ernsthaft geweckt. Seitdem habe ich ihn häufig interviewt, seine Vorträge besucht und in Dagens Nyheter berichtet, wenn seine Forschungsergebnisse in den führenden wissenschaftlichen Zeitschriften der Welt erschienen.
Nach den ersten Mitochondrienanalysen ging er dazu über, Kern-DNA zu untersuchen. Das ist wie gesagt deutlich komplizierter. Doch wenn es gelingt, erhält man ein sehr viel vollständigeres Bild, da die Mitochondrien nur einige Tausendstel Prozent unserer gesamten DNA enthalten und darüber hinaus nur in mütterlicher Linie vererbt werden können. Der Rest unserer DNA befindet sich im Zellkern, und diese DNA erben wir von beiden Elternteilen.
Die erste vorläufige Bestandsaufnahme der Kern-DNA, die Svante Pääbo und seine Kollegen 2009 veröffentlichten, bestätigte die Ergebnisse der ersten Mitochondrienanalysen – nämlich dass die Neandertaler nicht die Vorfahren des modernen Menschen sind, sondern eher so etwas wie unsere genetischen Cousins.
Doch dann tauchten neue Informationen auf. Verfeinerte Analysemethoden erbrachten unerwartete Ergebnisse. Selbst Svante Pääbo war überrascht. Im Mai 2010 veröffentlichten er und seine Mitarbeiter eine umfassende Untersuchung, die belegte, dass Neandertaler und moderne Menschen tatsächlich gemeinsame Kinder gezeugt haben. Ihre Erbanlagen leben in uns weiter. Die Neandertaler sind also nicht gänzlich ausgestorben.
Seitdem hat sich die Technik zur Analyse uralter DNA noch einmal weiterentwickelt und liefert uns heute ein so detailliertes Bild, als ob die Wissenschaftler dich und mich, die wir heute leben, untersucht hätten. Dabei sind sie zu folgenden Schlussfolgerungen gekommen:
Ja, die Neandertaler sind tatsächlich unsere Vorfahren, aber nur zu ungefähr zwei Prozent. Als wir anatomisch modernen Menschen von Afrika aus in die anderen Erdteile wanderten, kamen wir durch den Nahen Osten – unter anderem durch jenes Gebiet im heutigen Israel, das Galiläa heißt. Dort lebten damals bereits Neandertaler. Eine Zeit lang müssen wir neben ihnen in dieser Region gelebt haben. Bei mehreren Gelegenheiten hatten wir Sex miteinander, was zu Nachkommen führte, die selbst wieder gesunde Kinder bekommen konnten.
Heute lebende Menschen mit asiatischer, australischer oder amerikanischer Herkunft haben etwas mehr Neandertaler-DNA als Europäer, nämlich gut zwei Prozent, während ein durchschnittlicher Europäer nur knapp zwei Prozent besitzt. Das beruht vermutlich auf weiteren Kreuzungen von Neandertalern und modernen Menschen weiter östlich in Asien.
Die Menschen, die nach Osten wanderten, nach Asien, Neuguinea und Australien, scheinen sich außerdem mit einer anderen Art Urmenschen vermischt zu haben, den Denisova-Menschen. Bei modernen Menschen in Neuguinea beträgt der Anteil an Denisova-DNA in ihrem Erbgut bis zu sechs Prozent, während sich ein geringerer Prozentsatz auch in der chinesischen Bevölkerung nachweisen lässt.
Tatsächlich kann man das Erbe der Neandertaler auch bei heutigen Afrikanern nachweisen. Das betrifft sogar traditionelle Völker wie die Yoruba in Westafrika und die Mbuti in Kongo-Kinshasa. Bei ihnen handelt es sich jedoch um äußerst geringe Mengen, die sich dadurch erklären lassen,