Meine europäische Familie. Karin Bojs
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Meine europäische Familie - Karin Bojs страница 13
Die Autorin Jean M. Auel beschreibt in ihren Bestsellerromanen, wie das Steinzeitmädchen Ayla, das aus der Gruppe der modernen Menschen stammt, bei Neandertalern aufwächst. Es ist nicht auszuschließen, dass in der Realität Ähnliches vorgekommen ist. Einzelne Individuen könnten zur jeweils anderen Gruppe gewechselt sein und dabei Kenntnisse und Traditionen mitgenommen haben. Schließlich belegen die genetischen Befunde, dass Neandertaler und moderne Menschen im Nahen Osten gemeinsame Kinder hatten.
Das Gleiche gilt übrigens auch für Europa. Einige Anthropologen sind schon seit Langem überzeugt, dass einzelne Skelette deutliche anatomische Merkmale sowohl von Neandertalern als auch von modernen Menschen aufweisen. Das belegen zum Beispiel zwei Funde aus der Höhle Peştera cu Oase im heutigen Rumänien – der Schädel eines 15-Jährigen und der Unterkiefer einer erwachsenen Person. Letzterer wurde mit der Radiokarbonmethode auf ein Alter von ungefähr 40.000 Jahren datiert.
Im Frühjahr 2015 gelang Svante Pääbo und seinen Mitarbeitern der Nachweis, dass der Unterkiefer tatsächlich ziemlich große Mengen Neandertaler-DNA enthält, und zwar zwischen fünf und elf Prozent des gesamten Erbguts. Außerdem scheint das Erbe der Neandertaler nur vier bis fünf Generationen zurückzuliegen, da die DNA in langen, ungebrochenen Sequenzen vorliegt. Das Individuum in Peştera cu Oase hatte also einen Neandertaler zum Ur-Ur-Großvater oder in einem ähnlichen Verwandtschaftsgrad.
Im Erbgut von uns heutigen Europäern sind allerdings davon keine Spuren mehr zu entdecken.
Nachdem moderne Menschen mit Neandertalern gemeinsame Kinder bekommen hatten, müssen ihre Nachkommen also ausgestorben sein. Sicher nachweisen kann die Wissenschaft nur Kreuzungen, die irgendwo im Nahen Osten vor ungefähr 54.000 Jahren stattgefunden haben, sowie eine weitere in Asien.
Die Neandertaler hatten größere Gehirne als wir und sie waren definitiv keine Dummköpfe. Sie waren gute Jäger und standen uns in puncto Geschicklichkeit in vielerlei Hinsicht nicht nach. Ihre Steinwerkzeuge waren symmetrisch und funktionell. Die Herstellung solcher Werkzeuge zu erlernen, ist extrem schwierig, wie mir Archäologiestudenten versicherten. Offensichtlich besaßen die Neandertaler auch die Fähigkeit, ihre Technik weiterzuentwickeln, selbst wenn es durch Nachahmung von uns geschah.
Bis heute gibt es allerdings keine glaubhaften Beweise dafür, dass sie Kunstwerke schufen und Musikinstrumente verwendeten. Vermutlich konnten sie nicht in gleichem Maße in Symbolen denken wie wir. Sie hatten zwar ganz offensichtlich ein Gefühl für Symmetrie, jedoch nicht für Kunst und Ästhetik nach unseren Maßstäben.
Es war ein Aha-Erlebnis für mich, als Jean-Jacques Hublin den Unterschied zwischen Symmetrie und Ästhetik erwähnte. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Teenager in einer Konditorei arbeitete und das Dekorieren von Torten und Gebäck erlernte. Fast alle Anfänger machen den gleichen Fehler – sie versuchen, völlig symmetrische Muster zu schaffen. Doch als ich es wagte, die Symmetrie zu durchbrechen, wurden die Torten viel schöner. Könnte das bewusste Durchbrechen der Symmetrie einer der Schlüssel zur Einzigartigkeit des Menschlichen sein?
Ich glaube wie Jean-Jacques Hublin, dass uns moderne Menschen eine Mitschuld daran trifft, dass die Neandertaler ausstarben. Über die moralische Schuld lässt sich streiten, obwohl sie hoffentlich mittlerweile verjährt ist. Die Neandertaler waren ja immerhin Menschen, wenn auch nicht wesensgleich mit uns. Ist ihr Tod mit der Ausrottung einer Tierart zu vergleichen? Oder eher mit einem Völkermord?
In jedem Fall sollten wir uns hüten, auf die Neandertaler herabzuschauen. Sie haben in Europa viel länger überlebt, als wir es bisher getan haben. Sie existierten hier mindestens ein paar Hunderttausend Jahre, und wenn man ihre Vorgänger mitberücksichtigt – die zuweilen Homo heidelbergensis genannt werden –, sprechen wir von mehr als vierhunderttausend Jahren.
Allein die Kultur des Aurignacien prägte Europa circa zehntausend Jahre lang. So lange hatte kein aus historischer Zeit bekanntes Reich Bestand. Doch dann rollte eine neue Einwanderungswelle auf den Kontinent zu.
DIE MAMMUTS IN BRÜNN
Die Stadt Brünn (Brno) in Tschechien ist ein klassisches Ziel für alle an Gentechnik Interessierten. Ich bin früher schon einmal hier gewesen, unter anderem, um eine Reportage über den Mönch Gregor Mendel zu schreiben. Er erbrachte in den 1860er-Jahren den Nachweis, dass Merkmale durch voneinander abgegrenzte Einheiten vererbt werden – diese Einheiten nennen wir heute Gene. Das Kloster, in dem Mendel arbeitete, existiert noch. Nachdem es in der kommunistischen Ära ein Schattendasein führte, ist es jetzt restauriert worden. Kloster waren bei den Kommunisten nicht gern gesehen und auch die biologische Wissenschaft wurde mit Argwohn betrachtet – besonders während der Herrschaft von Josef Stalin in der Sowjetunion. Vor allem die als kontrarevolutionär und bürgerlich erachtete Genetik war tabu.
Als ich Brünn jetzt wieder besuche, schaue ich noch einmal im Augustinerkloster und im Museum zu Mendels Leben und Werk vorbei. Einige blühende Erbsen ranken vor dem Eingang. Mendel führte seine Versuche an Erbsenpflanzen durch, denn sie waren praktisch und pflegeleicht. Er säte und rechnete, säte und rechnete. Gelbe Erbsen, grüne Erbsen, rote Blüten, weiße Blüten, hohe Pflanzen, niedrige Pflanzen … Auf der Basis sieben verschiedener Eigenschaften der Erbse formulierte er seine Vererbungsgesetze und beschrieb dominante und rezessive Merkmale.
Es sollte über vierzig Jahre dauern, bis Gregor Mendels Erkenntnisse über die Stadt Brünn hinaus bekannt wurden. Als man sie dann schließlich anwandte, revolutionierten sie die Pflanzenveredelung, die Tierzucht und fast die gesamte biologische Wissenschaft. Leider sind Mendels Ergebnisse teils falsch interpretiert worden. Heute wissen wir, dass Vererbung selten so simpel ist wie bei seinen grünen und gelben Erbsen. Bei den meisten Merkmalen verläuft sie deutlich komplizierter und wird sowohl von vielen unterschiedlichen Genen als auch von Umweltfaktoren beeinflusst.
Nach meinem Besuch im Mendelmuseum fahre ich mit der Straßenbahn einige Haltestellen stadtauswärts. Dieses Mal bin ich nach Brünn gekommen, um mehr über jene große europäische eiszeitliche Kultur zu lernen, die auf das Aurignacien folgte: das Gravettien.
Außerhalb der Stadt liegen einige der wichtigsten eiszeitlichen Fundplätze Europas. Der bekannteste ist Dolni Věstonice. Viele der dortigen Funde sind im Museum Anthropos am Stadtrand von Brünn zu sehen. In der Straßenbahn versuche ich von einigen Damen in Erfahrung zu bringen, an welcher Haltestelle ich aussteigen muss. Mit Englisch komme ich nicht weiter, sodass ich auf mein äußerst rudimentäres Deutsch zurückgreifen muss. Als sie endlich verstehen, was ich meine, rufen sie: „Aha! Mammut!“ Eine von ihnen steigt an der gleichen Haltestelle aus wie ich, nicht etwa, weil sie dort etwas zu erledigen hätte, sondern, um mir den Weg zu zeigen. Als ich das Museum betrete, verstehe ich, worauf die Damen angespielt haben: Das Gebäude wird von einem riesenhaften, über zwei Stockwerke großen, langhaarigen Mammut dominiert. Neben ihm steht sein Junges, das fast so groß ist wie eine Kuh.
Im Obergeschoss sehe ich das berühmte Dreiergrab. Darin liegen drei Menschen, die alle im Teenageralter oder mit Anfang zwanzig starben: in der Mitte eine Frau, die behindert war und deren Skelett offenbar angeborene Schäden aufweist. Sie liegt auf dem Rücken. Zu beiden Seiten von ihr liegt jeweils ein Mann. Der eine liegt dicht neben ihr auf dem Bauch, den Arm mit ihrem verschränkt, der andere liegt etwas weiter entfernt, aber seine Hand ruht auf ihren Geschlechtsteilen. Ihre Köpfe und auch der Schoß der Frau mit der Hand des Mannes sind mit Ocker bedeckt.
Zwei dieser Personen könnte man als meine Verwandten bezeichnen. Ihre mitochondriale DNA gehört zur Gruppe U5, genau wie meine. Aber ihre U5 ist eine sehr frühe Variante, die heute keine Entsprechung mehr hat. Die dritte Person – der Mann, der seine Hand auf dem Schoß der Frau hält – gehört zur Gruppe U8.
Eine