Meine europäische Familie. Karin Bojs
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Das Speisenangebot ist heutzutage leichter verdaulich als in der Eiszeit – zum Frühstück gibt es Café au lait und Buttercroissants. Die Lage ist aber genauso schön wie damals, als die ersten Menschen diesen Platz erwählten. Man kann immer noch in der Abendsonne sitzen und auf den Fluss hinunterschauen. Jetzt jedoch bei einem erfrischenden Glas Kir Royal.
Die Menschen der Eiszeit wählten oft nach Westen gewandte Höhlenöffnungen oder Felsüberhänge als Wohnplätze, wo die Sonne sie wärmte und der Fels sie gegen den kalten Nordwind schützte. Und fast immer hatten sie Aussicht aufs Wasser.
Unter Archäologen herrscht Uneinigkeit, inwieweit die Menschen in Cro-Magnon zum Aurignacien oder zum Gravettien zu rechnen sind, denn sie lebten in einer Übergangszeit. Hinzu kommt, dass es bei den ersten Grabungen ein wenig drunter und drüber ging. Es gibt jedoch in der näheren Umgebung viele andere Fundplätze, an denen systematischer gearbeitet wurde und wo man die ganze Vorgeschichte durch meterdicke Ablagerungen hindurch verfolgen kann.
Zum Beispiel in Abri Pataud, das nur ein paar Hundert Meter von Cro-Magnon entfernt liegt. In der untersten Schicht findet man Spuren der Neandertaler. Darüber folgt eine Schicht ohne menschliche Hinterlassenschaften. Die ersten modernen Menschen, typische Vertreter des Aurignacien, tauchen vor ungefähr 35.000 Jahren auf.
Man hat in Abri Pataud Knochen von sechs verschiedenen Individuen gefunden: von zwei Frauen mit ihren neugeborenen Kindern, einem fünfjährigen Kind und einem erwachsenen Mann. Das am besten erhaltene Skelett gehört einer der Frauen. Sie war ungefähr zwanzig Jahre alt und circa 1,65 Meter groß. Ihr Kieferknochen war durch eine sehr schwere Zahnentzündung geschädigt – so schwer, dass sie daran eines qualvollen Todes gestorben sein könnte, falls sie nicht bei der Geburt ihres Kindes starb. Die eiszeitlichen Jäger litten fast niemals an Karies, weil sie so wenig Stärke und Zucker aßen, doch konnten Abnutzung und Entzündungen andere schwerwiegende Zahnprobleme verursachen.
Bisher gibt es keine zuverlässigen DNA-Analysen aus Cro-Magnon oder Abri Pataud. Der deutsche Wissenschaftler Johannes Krause unternahm allerdings einen Versuch. Er begann mit dem berühmtesten der Skelette, das Cro-Magnon 1 genannt wird und sich im Musée de l’Homme in Paris befindet. Krause versuchte, aus mehreren der Knochen DNA zu extrahieren, doch nur eine seiner Analysen glückte. Daraufhin ließ er auch Isotopanalysen dieses Knochens erstellen. Durch den Vergleich verschiedener Isotope des Elements Schwefel wollte er herausfinden, wie sich dieser Mensch ernährt hatte.
Die eiszeitlichen Europäer nahmen wie gesagt verhältnismäßig wenige Kohlenhydrate und stattdessen viel Protein aus Fleisch und Fisch zu sich. Doch der Knochen, der angeblich von Cro-Magnon 1 stammte, machte den Eindruck, als hätte er einem modernen Veganer gehört – oder einer Kuh, die ausschließlich Gras gefressen hat.
Als Johannes Krause den Knochen mithilfe der Radiokarbonmethode datieren ließ, stellte sich heraus, dass er aus dem 14. Jahrhundert stammte. Sein Gehalt an Schwefelisotopen entsprach dem eines armen Menschen im Mittelalter, der sich fast ausschließlich von Grütze ernährte und praktisch kein Fleisch aß.
Der Knochen wurde schleunigst aus den Sammlungen des Musée de l’Homme entfernt.
Die Spuren des Gravettien in Les Eyzies enden vor ungefähr 20.000 Jahren, genau wie anderswo in Europa. Damit begann eine Kultur, die Solutréen genannt wird.
In Abri Pataud wie auch an mehreren anderen Grabungsplätzen kann man ablesen, dass das Klima zu dieser Zeit sehr viel kälter wurde. Heute liegt die Durchschnittstemperatur in Europa bei ungefähr plus zwölf Grad. In der kältesten Periode der Eiszeit, vor 18.000 bis 19.000 Jahren, betrug die mittlere Temperatur ungefähr minus vier Grad. Pferde, zuvor eine häufige Jagdbeute, waren damals stark dezimiert. Übrig blieben hauptsächlich Rentiere, Europäische Bisons (oder Wisente) und einige kälteunempfindliche Raubtiere wie Polarfüchse und Wölfe.
Und Menschen.
Interessanterweise erlebte die menschliche Kultur gerade damals eine große Blüte. Das kann man im großen Museum von Les Eyzies gut nachvollziehen.
Das Musée Nationale de Préhistoire in Les Eyzies-de-Tayac ist ein großes, kostspieliges Museum, das vom französischen Staat unterhalten wird. Genau wie die Pension Cro-Magnon ist das Gebäude teilweise in den hellen Kalkfelsen hineingebaut.
Eine ganze Etage des Museums ist eiszeitlichen Werkzeugen vorbehalten – vor allem aus Stein, aber auch aus Horn, Knochen und Elfenbein –, die systematisch nach Periode und Kultur geordnet die Vitrinen füllen. Für mich als Nichtfachfrau ist es schwierig, den Übergang vom Neandertaler zum modernen Menschen und vom Aurignacien zum Gravettien zu erkennen. Doch der Übergang vom Gravettien zum Solutréen vor ungefähr 20.000 Jahren springt auch dem unbedarftesten Betrachter ins Auge.
Die Werkzeuge aus dem Solutréen sind völlig anders und sehr viel weiter entwickelt. Sie sind papierdünn, blank, scharf und bildschön. Einige sind so fein gearbeitet und übertrieben groß, dass sie kaum für praktische Arbeiten geeignet waren, sondern Ziergegenstände gewesen sein müssen. Der Feuerstein ist von besonders guter Qualität und wurde oftmals aus Felsen geholt, die fünfzig Kilometer entfernt lagen. Wahrscheinlich wurden diese Werkzeuge von geübten Spezialisten hergestellt. Diese Spitzen in Form von Weidenblättern aus dem Stein herauszuarbeiten, war sicherlich keine Aufgabe für jedermann.
Demgegenüber schein fast jeder seine eigenen Speerschleudern aus Horn hergestellt zu haben. Das ist an den laienhaften Formen und den eingeritzten Bildern zu erkennen. Speerschleudern waren eine Innovation, die die Jagd in der offenen Landschaft der Eiszeit vereinfachte. Mit ihrer Hilfe konnten die Jäger das Hebelprinzip nutzen und ihre Speere mit größerer Kraft schleudern.
Während des Solutréens tauchen erstmals auch Nähnadeln in Westeuropa auf. Die Vitrinen des Museums zeigen, wie die Menschen sie Schritt für Schritt aus dem Stoßzahn eines Mammuts herstellten. Ältere Funde von Nähnadeln sind wie erwähnt nur aus Russland bekannt.
Schon seit langer Zeit benutzen die Menschen Kleidung. Mark Stoneking vom Max-Planck-Institut in Leipzig hat sich einer unkonventionellen Methode bedient, um das Alter von Kleidungsstücken zu berechnen: der DNA-Analyse von Kleiderläusen. Ein Vergleich verschiedener Familien der Kleiderlaus mit Kopfläusen und Läusen von Schimpansen erlaubte es ihm, die Dauer der Bekleidungsgeschichte auf ungefähr 107.000 Jahre festzusetzen. Zwar weist die Berechnung Abweichungen von mehreren Zehntausend Jahren auf, doch kann er präzisere Angaben machen als andere Forscher vor ihm. Mark Stonekings Analysen der Läuse-DNA belegen auch, dass der Mensch bereits in Afrika begonnen hatte, Kleidung zu benutzen.
An vielen Orten haben Archäologen Steinschaber gefunden, die vermutlich der Bearbeitung von Tierhäuten für Kleidung dienten. Auch die Neandertaler beherrschten diese Technik. Dieses Wissen war die Voraussetzung für ein Leben außerhalb der Tropen. Klei dung war mit Sicherheit in kühleren Gegenden Afrikas und des Nahen Ostens ebenso notwendig wie für die ersten Einwohner Europas.
Sich in einen Fellmantel zu hüllen und mit einer Ahle einige Löcher zu stechen, um zwei Lederstücke zu einer Tunika zusammenzufügen, ist eine Sache. Etwas ganz anderes ist es, mithilfe von Nadeln Anoraks mit pelzgefütterten Kapuzen, gut sitzende Beinkleider und wasserdichte Stiefel zu nähen.
Nähnadeln mit Öhr mögen uns heute nicht besonders imponieren, doch während der kältesten Perioden der Eiszeit bedeuteten sie den Unterschied zwischen Leben und Tod. Dichte und warme Kleidung muss in dem unbarmherzigen Klima entscheidend gewesen sein, und eine Nadel mit Öhr erleichterte die Arbeit.