Meine europäische Familie. Karin Bojs
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Die jungen Menschen lebten vor ungefähr 31.000 Jahren. Die ältesten Funde aus Dolni Věstonice sind nach den neuesten Datierungen bis zu 34.000 Jahre alt. Sie alle werden der Kultur des Gravettien zugeordnet, deren Werkzeuge und Kunstgegenstände sich deutlich von denen des Aurignacien unterscheiden.
In einer der Universitäten der Stadt treffe ich den für die Grabungen in Dolni Věstonice verantwortlichen Archäologen Jiři Svoboda. Er ist ein zurückhaltender Mann in den Sechzigern und einer der angesehensten Archäologen Europas. Svoboda ist davon überzeugt, dass das Aurignacien und das Gravettien zwei unterschiedliche Einwanderungswellen nach Europa repräsentieren. Das Aussehen der Gegenstände legt Zeugnis davon ab, dass die Menschen des Gravettien von Süden her einwanderten, aus dem Nahen Osten und von den Stränden des Mittelmeers.
Das einzige Individuum des Aurignacien, das bisher untersucht worden ist, ist der K14-Mann aus Kostenki in Russland. Er gehörte zur Haplogruppe U2. Die drei Menschen des Gravettien aus Dolni Věstonice gehörten den Gruppen U5 und U8 an. Diese mageren Befunde können weder Jiři Svobodas Theorie über zwei unterschiedliche Einwanderungswellen belegen, noch das Gegenteil beweisen. Es ist durchaus möglich, dass er recht hat und dass weitere Fossilien, deren DNA in Zukunft untersucht wird, seine Theorie untermauern. Aurignacien und Gravettien hätten in dem Fall vor ungefähr 50.000 Jahren einen gemeinsamen Ursprung im Nahen Osten, wären dann aber mit unterschiedlichen Einwanderungswellen nach Europa gekommen. Zu ihrer gemeinsamen Ursprungsgruppe gehörte „Ursula“, also eine Frau aus der Haplogruppe U, die die Urmutter all derjenigen wurde, die einer der insgesamt neun Untergruppen mit Namen wie U2, U4, U5 und U8 angehören. Menschen aus dieser Keimzelle im Nahen Osten unternahmen zahlreiche Versuche, nach Europa einzuwandern. Doch nur zwei dieser Versuche während der Eiszeit waren erfolgreich: das Aurignacien, das vor gut 43.000 Jahren hierherkam, und das Gravettien, das vor ungefähr 34.000 Jahren Europa erreichte.
Die umfangreichen Funde aus Dolni Veestonice bergen riesige Mengen an Informationen über das Leben in Zentraleuropa vor 20.000 bis 34.000 Jahren. Die Spuren verraten, dass die Menschen in regelmäßigen Abständen zu ihren Siedlungsplätzen zurückkehrten. Einige von ihnen könnten auch dauerhaft in Dolni Veestonice gelebt haben. Sie waren hoch spezialisierte Mammutjäger, ernährten sich aber auch von Hasen und Vögeln.
Einige Schmuckstücke wie durchbohrte Fuchszähne und Perlen wurden hier gefunden, jedoch weniger als in den Hinterlassenschaften des Aurignacien üblich. Die Menschen des Gravettien scheinen viel Wert auf den Schmuck ihrer Mützen gelegt zu haben.
Auch eine ganze Reihe von Kunstgegenständen ist erhalten. Am berühmtesten ist die „Venus von Dolni Věstonice“, eine üppige Frauenfigur aus gebranntem Ton. Sie ist mehrere Tausend Jahre älter als die ältesten bisher bekannten Keramikgefäße, die in Japan und China entdeckt wurden.
Die Menschen in Dolni Věstonice waren Nomaden, die keine schweren Keramikgefäße mit sich herumschleppen wollten, erläutert Jiři Svoboda. Ihr Essen kochten sie in Behältern aus Tierhäuten, in denen sie Wasser mithilfe im Feuer erhitzter Steine erwärmten. Das war die steinzeitliche Version unseres Wasserkochers, eine erstaunlich effektive Methode.
Aus dem Ton stellten sie stattdessen Miniaturfiguren her – sowohl Tiere als auch Menschen –, von denen eine große Anzahl gefunden wurde. Viele liegen zersplittert dicht bei den Feuerstellen. Es sieht so aus, als ob die Bewohner von Dolni Věstonice Tonfiguren formten und sie dann ins Feuer legten, bevor sie durchgetrocknet waren. Dabei dehnt sich das Wasser im Ton aus und der Gegenstand explodiert. Wie Popcorn. Wir können nur darüber spekulieren, ob explodierende Tonfiguren ein Partygag waren, der allein der Unterhaltung diente, oder Teil eines Ritus.
Eine andere seltsame Beschäftigung der Menschen in Dolni Věstonice scheint es gewesen zu sein, einander heftig auf den Kopf zu schlagen. Offenbar benutzten sie dafür Keulen oder ähnliche harte Gegenstände. Viele der Schädel weisen gravierende Verletzungen auf, die jedoch abgeheilt waren, bevor die betreffende Person aus einem anderen Grund starb.
Unter Forschern heiß umstritten ist die Frage, ob die Menschen in Dolni Věstonice zahme Hunde hielten. An den Grabungsplätzen wurden viele Knochen von Wölfen gefunden. Mehrere davon stammen von ungewöhnlich kleinen Tieren, die viele Archäologen eher für Hundeskelette halten.
Jiři Svoboda drückt sich diplomatisch aus, wenn er über dieses Thema spricht. Er arbeitet mit mehreren anderen Forschern zusammen, die weit auseinandergehende Meinungen vertreten. Er weist jedoch auf einen Faktor hin, der in diesem Zusammenhang entscheidend sein könnte: In den Siedlungen sind große Mengen Knochen von Beutetieren gefunden worden, die jedoch keinerlei Bissspuren von Hunden aufweisen.
Anscheinend suchten die Wölfe die Nähe der menschlichen Siedlungen, weil sie dort leicht an Fleisch herankommen konnten. Sie hielten sich jedoch am Rande auf und wurden erst später zu unseren zahmen Begleitern.
Ich komme später noch auf die hitzige Debatte über die ersten Hunde zurück.
Die Venus von Dolni Věstonice ist ziemlich fett und das gilt auch für mehrere andere Frauenfiguren, von denen Fragmente gefunden wurden. Sie haben so viel Unterhautfett, dass sich die Haut auf ihrem Rücken in Falten legt. Das ist ein wenig paradox, denn Knochen und Zähne der Menschen in Dolni Věstonice verraten, dass sie Hungerzeiten durchmachten. Das Leben in der zentraleuropäischen Ebene konnte hart sein. Es traten große Temperaturunterschiede auf und vor ungefähr 20.000 Jahren wurde es so kalt, dass die Menschen dort kaum noch ausharren konnten. Damals begann die allerkälteste Periode der Eiszeit.
Zentraleuropa war nicht mehr bewohnbar. Die Mammutjäger von Dolni Věstonice wanderten in Gegenden ab, wo das Klima wärmer und das Leben erträglicher war. Und ich fahre in den Südwesten Frankreichs und nach Spanien, denn ich glaube, dass einige meiner Verwandten dorthin zogen.
CRO-MAGNON
ICH FAHRE NACH LES EYZIES-DE-TAYAC UND STEIGE IM „Cro-Magnon“ ab.
Les Eyzies liegt in den Bergen des französischen Départements Dordogne, einige Stunden mit dem Regionalzug von Bordeaux nach Osten. Es ist der Nabel der Welt für alle, die sich mit der europäischen Eiszeit beschäftigen. Die Touristen kommen zu Hunderttausenden, um Grabungsstätten, Höhlenmalereien und Museen zu besichtigen. Das kleine Dorf ist ganz darauf ausgerichtet, all die Eiszeittouristen zu beherbergen.
Alles begann mit Cro-Magnon. Ein örtlicher Großbauer, der mit Nachnamen Magnon hieß, ließ eine Straße über sein Land bis hinunter zum neuen Bahnhof bauen. Seine Arbeiter holten die Steine dafür von einer Stelle, die in der französischen Hochsprache „abri“ heißt, im Dialekt der Region jedoch „cro“. Das Wort bezeichnet einen Felsüberhang, eine in den hiesigen Kalkfelsen häufig anzutreffende geologische Formation. Durch versickerndes Grundwasser und Frostsprengung wird der Fels ausgehöhlt und es entsteht ein geschützter Raum mit einem natürlichen Dach.
Unter dem Felsüberhang Cro-Magnon fand man mehrere menschliche Skelette, die offensichtlich sehr alt waren. Das war im Jahr 1868, nur wenige Jahre nach der Entdeckung des Neandertalers in Deutschland. Charles Darwins Buch Über die Entstehung der Arten war soeben erschienen und breiteren Bevölkerungsgruppen wurde allmählich bewusst, dass der Mensch schon sehr viel länger existierte als die von manchen Bibelgelehrten behaupteten 6.000 Jahre.
Untersuchungen erbrachten, dass die Skelette in Cro-Magnon nicht von Neandertalern stammten, sondern eher uns heutigen Menschen ähnelten. Europas erste anatomisch moderne Menschen erhielten den Namen „Cro-Magnon-Menschen“.