Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin. Группа авторов

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      KURT REUMANN

      Der Mond ist in der Leipziger Straße am größten. Über das Heimweh vieler Juden in aller Welt nach Berlin

      Selten hat mich etwas so getroffen wie Ze’ev Avrahamis Vorwurf: »Ihr habt uns im Stich gelassen!« Mit »ihr« meint der deutsch-israelische Journalist die dritte Generation der ›Post-Holocaust-Deutschen‹, mit »uns« die jungen Juden, die nach Deutschland gezogen sind, weil sie dachten, im inzwischen geläuterten ›Land der Täter und ihrer Enkel‹ könnten sie unbehelligt als Juden leben – freier, geselliger und solidarischer als woanders in der Welt. Avrahamis Anklage muss als Hilferuf verstanden werden. Zweieinhalb Jahre vor dem Anschlag auf die Synagoge in Halle erhoben, klingt er heute umso dringlicher.

      Nahezu 2.000 Jahre haben die Juden in der Diaspora als verfolgte Minderheit gelebt.1 Fast immer und fast überall saßen sie in Sorge, ihre neue Heimat verlassen zu müssen, auf ihren Koffern, und Avrahami weiß darüber zu berichten, dass manche seiner Freunde schon wieder ihre Koffer packen. Aber es ist doch sehr die Frage, ob sie auch wirklich fortziehen. Wohin sie sich auch wenden mögen, bedroht sind sie überall – und zwar stärker als in Deutschland. Über den mehrfach wiederholten Aufruf des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu an die Juden Europas, nach Israel ›heimzukommen‹, kann Avrahami nur lachen. Bitter lachen. Es ziehen erheblich mehr Juden nach Deutschland, als Juden Deutschland den Rücken kehren. Allein nach Berlin sind im Laufe der Jahre 20.000 Juden aus Israel gekommen. In dem Dokumentarfilm Germans and Jews lässt die New Yorker Regisseurin Janina Quint einen Globetrotter zu Wort kommen, der beteuert: »Ehrlich, ich fühle mich in Deutschland sicherer als in Israel.« Berlin fänden junge Leute inzwischen »heißer als New York«. Dabei gilt es zu beachten, dass der Film, der seit 2020 auch in deutschen Kinos gezeigt wird, bereits 2016 gedreht worden ist.2

      Zwar sorgt sich Felix Klein, seit 2018 Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung, dass der Hass auf Juden in Berlin besonders schlimm wüte. Die polizeiliche Kriminalstatistik zählt pro Tag vier judenfeindliche Gewalttaten in Berlin. Aber Klein hat auch Augen für die positive Seite: In der deutschen Hauptstadt sind Juden besonders gut integriert. Alle Provokationen, alle Händel ändern daran nichts. Reicht das aus, um jüdische Globetrotter einzuladen, weiter von Berlin zu träumen? Ja, beteuert die 33 Jahre alte Autorin Deborah Feldman, die nach der Trennung von der orthodoxen Glaubensgemeinschaft der Chassiden mit ihrem damals drei Jahre alten Sohn durch die Vereinigten Staaten, Frankreich, Spanien und Skandinavien vagabundierte, um endlich eine neue Heimat an der Spree zu finden.

      Berlin, Berlin! Warum sie sich dort so wohlfühlt? Zitat: »Für jemanden wie mich, einen wurzellosen Wanderer, der nirgends richtig hinpasste, fühlte sich Berlin wie der richtige Ort an. Und wirklich, diese Stadt ist ein Zuhause für diejenigen, die keines haben, ein Ort, an dem sogar diejenigen Wurzeln schlagen, die scheinbar gar keine entwickeln können«, schreibt sie in ihrer hinreißenden Autobiografie Unorthodox. Und: »Ich bin frei, ich selbst zu sein, und das fühlt sich gut an.« Für die Verfilmung des Bestsellers Unorthodox hat die deutsche Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader 2020 den US-Fernsehpreis Emmy erhalten. In ihrem zweiten Werk Überbitten schildert Deborah Feldman, wie ihr Leben nach der Befreiung aus den Fesseln der religiösen Ultras weiterging. Sie hat in Berlin neue Freunde gefunden, die ihr Lebensgefühl teilen.3

      Auch Avrahami und seine Ehefrau Kirsten Grieshaber genießen die Berliner Luft. Die gebürtige Rheinländerin, Korrespondentin der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press, hat 2019 unter dem Titel Willkommen im Café Zahav. Meine israelische Mischpoke und ich ein Buch über Avrahamis Restaurant ›Sababa‹ geschrieben.4 ›Sababa‹ heißt auf Deutsch: ›Alles in Butter!‹ Aber es ist längst nicht mehr alles paletti. Immer seltener kamen gesprächsoffene arabische und deutsche Gäste, für die Avrahami seine kulinarischen Friedensangebote nach arabischen Rezepten zuzubereiten pflegte. Stattdessen riefen deutsche Rechtsradikale und antisemitisch sozialisierte Araber Hetzparolen ins Lokal. Inzwischen hat Avrahami es geschlossen, um sich ganz auf seine journalistische Arbeit zu konzentrieren.

      Nach demselben Muster sollen auch andere jüdische Gastwirte zum Aufgeben gezwungen werden. Im Dezember 2018 stand ein alter deutscher Mann vor Yoray Feinbergs Restaurant im Berliner Gründerzeit-Viertel Schöneberg und rief ihm (vor laufender Kamera) zu, Juden sollten in die Gaskammern zurückkehren. Weil Feinberg mit Anzeigen keinen Erfolg hatte, sammelte er die Schmähbriefe an ihn und die Morddrohungen auf Facebook: 31 Seiten Hass. Im September 2018 bewarf ein Dutzend schwarz gekleideter Vermummter das koschere Restaurant ›Schalom‹ in Chemnitz mit Steinen, Flaschen und einem abgesägten Stahlrohr. Als der Besitzer des Lokals, Uwe Dziuballa, von den Geräuschen alarmiert, vor die Tür trat, drangen die schwarzen Gesellen mit den Worten »Hau ab aus Deutschland, du Judensau« auf ihn ein und verletzten ihn durch einen Steinwurf an der Schulter. Die Ermittlungen gegen die Täter sind eingestellt worden. Das verstehe, wer will.

      Ich kehre zu den Liebeserklärungen an Berlin zurück – aber mit einem Kloß im Hals. Womöglich noch stärker fühlen sich diejenigen Juden von der deutschen Hauptstadt angezogen, die dort alte Freunde haben, weil sie mit Spreewasser getauft worden sind. Sophia Mott hat in ihrem Buch über Martha Liebermann geschildert, wie die Treue zu Berlin der Tochter eines jüdischen Kaufmanns zum Verhängnis wurde. Ihr Mann, der jüdische Impressionist Max Liebermann, war in seinen letzten Lebensjahren antisemitischen Angriffen ausgesetzt gewesen und musste als Ehrenpräsident der Akademie der Künste zurücktreten. »Ick kann jar nich so ville fressen, wie ick kotzen möchte«, schimpfte er berlinernd über die Nationalsozialisten. Schon die Ermordung seines Verwandten und Weggefährten Walther Rathenau, des deutsch-jüdischen Außenministers, im Juni 1922 hatte Liebermann tief erschüttert. Trotzdem liebte er Berlin, was er mit den Worten eines Malers und Augenmenschen so ausdrückte: »Der Mond ist in der Leipziger Straße am größten.« 1935 starb der Künstler. Seine Witwe konnte sich trotz wachsender Gefahr nicht von Berlin und vom Grab ihres Mannes trennen. Als sie, ihrer Habe beraubt, 1943 zur Deportation nach Theresienstadt abgeholt werden sollte, nahm sie sich das Leben.5

      Max Liebermann gehörte zu den Juden, die sich im August 1914 vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs für ein Zusammenstehen aller Deutschen eingesetzt hatten. Auf einem Flugblatt zeichnete er die Volksmenge, die im Lustgarten des Berliner Schlosses einer ›Balkonrede‹ Kaiser Wilhelms II. lauscht. Kurz darauf beschwor der Kaiser vor den im Stadtschloss versammelten Reichstagsabgeordneten die nationale Einheit und appellierte an die ›Liebe und Treue‹ der Abgeordneten wie der Bevölkerung. Legendär geworden ist sein Ausspruch: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.« Die meisten deutschen Juden verstanden diesen Satz wie Liebermann als Aufruf an sich selbst. Sie sahen in der Mobilisierung die Chance, Bürger unter Bürgern mit den gleichen Rechten und Pflichten zu werden. In ihrem Pflichteifer und ihrer Opferbereitschaft wollten sie sich von niemandem übertreffen lassen.

      An Patriotismus und Einsatzbereitschaft haben es die Juden seit jeher nicht fehlen lassen. 1817 hat Goethe vorgeschlagen, die Feier des 300. Jubiläums der Reformation nicht allein den Protestanten zu überlassen. Vielmehr möge man sie auf den 18. Oktober verlegen, den Gedenktag an die Leipziger Völkerschlacht. Dieser Tag, an dem sich Russland, Preußen, Österreich und Schweden vom Joch Napoleons befreiten, verdanke seine Glorie nicht etwa nur Christen, sondern auch den Juden, Mohammedanern und Heiden, argumentierte Goethe: Die Juden hätten bei Leipzig als Deutsche mitgefochten.6

      Im Ersten Weltkrieg sind Zehntausende deutscher Juden gefallen oder verwundet worden.7 Die Nationalsozialisten haben die Erinnerung daran systematisch gelöscht, und auch heute ist wenig darüber bekannt, weil sich unsere Aufmerksamkeit auf den Zweiten Weltkrieg und die Bewältigung des Nazi-Erbes konzentriert. Aber wer die Chancen und die Tragik des Zusammenlebens von Deutschen und Juden verstehen will, darf dieses Kapitel nicht vergessen. Das meint auch Avi Primor. Der Diplomat und Publizist, der

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