Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin. Группа авторов

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aus der Perspektive zweier jüdischer Frontsoldaten, nämlich der Ludwig Kronheims aus Frankfurt und der Louis Naquets aus Bordeaux, die unversehens aufeinander schießen sollten. Der Titel spielt auf Horaz an: »Dulce et decorum est pro patria mori« – »Süß und ehrenvoll ist, fürs Vaterland zu sterben.«8 Auch Primor berichtet von der Kriegsbegeisterung deutscher Juden bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, von der Hoffnung, endlich für voll genommen zu werden, und von der anschließenden Enttäuschung.9

      Erschütternde Zeitdokumente über die Treue der Juden zu Deutschland und insbesondere zu Berlin, über jüdisch-deutschen Patriotismus, Vertreibung und Trennungsschmerz sind auch Lion Feuchtwangers Roman Die Geschwister Oppermann,10 Roman Fristers Ascher Levys Sehnsucht nach Deutschland11 und Gabriele Tergits fulminanter Familienroman Effingers. Gabriele Tergit ist das Pseudonym für Elise Reifenberg, geborene Hirschmann. Die ehemalige Gerichtsreporterin und Feuilletonistin erzählt die Geschichte dreier Familien über vier Generationen hinweg – von 1878 bis 1948.12 Juliane Sucker beleuchtet in ihrem Buch Sehnsucht nach dem Kurfürstendamm Leben und Werk von Elise Reifenberg, die 1931 an den Effingers zu schreiben begann.13 Der Roman erschien allerdings erst zwanzig aufregende Jahre später: 1951. Schon die Titel dieser Bücher künden vom Trennungsschmerz und einer sentimentalen Schwäche für das bessere Deutschland.

      Übrigens ist auch Frankfurt am Main ein Sehnsuchtsort, dem eine Jüdin ein literarisches Denkmal gesetzt hat, nämlich Silvia Tennenbaum. Sie war die Tochter von Erich Pfeiffer-Belli und Charlotte Stern. Mit ihrem Roman Yesterday’s streets schuf sie ein ›Frankfurt aus der Ferne‹.14 Benno Reifenberg, von 1924 bis 1930 verantwortlich für das Feuilleton der Frankfurter Zeitung, hatte ihren Vater 1938 als Kulturredakteur zum liberalen Herzensblatt der bürgerlichen Intelligenz in Frankfurt geholt, das 1856 von den Bankiers Leopold Sonnemann und Heinrich Bernhard Rosenthal gegründet worden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Pfeiffer-Belli in München als Kunst- und Theaterkritiker, vornehmlich für die Süddeutsche Zeitung. 1986 erschien seine Autobiografie Junge Jahre im alten Frankfurt und eines langen Lebens Reise.15

      Silvia Tennenbaum erzählt die Geschichte der Familie Wertheim seit deren Emanzipation aus der Frankfurter Judengasse bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung deportierter Juden aus den Konzentrationslagern. Moritz Wertheim pflegte seinen Enkeln zu erzählen: »Alle Welt spricht von den Rothschilds, aber sie sind nicht die einzige bedeutende Familie, die aus dem Frankfurter Ghetto (in der Judengasse) stammt. Sie sind die reichste, gewiss, aber auch einigen anderen von uns ist es nicht gerade schlecht ergangen.« Weiß Gott nicht! Silvia Tennenbaum lässt das erste Kapitel mit Helenes Geburt im Jahr 1903 beginnen. Lenchen ist die Enkeltochter von Moritz. Sie kam in einer Villa zur Welt, die es heute nicht mehr gibt, weil dort inzwischen die stolzen Doppeltürme der Deutschen Bank aufragen. Wer denkt noch an die Wertheims, wenn er in der Mainzer Landstraße zu den Doppeltürmen hinaufblickt?

      Eduard (Edu) Wertheim, Sohn von Moritz und Onkel von Lenchen, war von 1918 an Offizier im Dragonerregiment des Großherzogs von Hessen, das an der Ostfront stand. Im Frühherbst 1918 mit seinem Regiment nach Deutschland zurückgerufen, kam er nach Berlin. Spree-Athen war damals »eine Stadt, die zwischen verzweifelter Fröhlichkeit und immer spürbarer werdender Bedrohung schwankte«. Nicht einmal dass er dort ein magisches Gemälde von Nolde erwerben konnte, einem Maler, von dem man in Frankfurt noch nichts gehört hatte, konnte Eduard mit der verlotterten Hauptstadt versöhnen. Heimat war und blieb für ihn nur Frankfurt. An dieser Stelle höre ich auf, aus Tennenbaums Buch zu referieren. Schließlich will ich dem Leser nicht die Spannung rauben, sondern ihn zum Weiterlesen verführen. Stattdessen wende ich mich jüngeren Arbeiten zu.

      In seiner Familiengeschichte Wo wir zu Hause sind (2019) schildert der Berliner Kolumnist Maxim Leo, warum manche seiner aus Deutschland vertriebenen Verwandten an Rückkehr denken. Wenigstens für geraume Zeit. Wenigstens an Weihnachten. Kerzen, Rosinenstollen, »Stille Nacht, heilige Nacht«, Gerüche, Geschmack und der Mond über der Spree. Leo zitiert seine Tante Michal: Nirgendwo sei die Weihnachtszeit so schön wie in Berlin. Die meisten Juden, auch die Wertheims in Frankfurt, feierten Weihnachten nach christlichen Bräuchen mit Tannenbaum und Dresdner Christstollen. Leos Tante Micha malt sich aus, wie es wäre, nicht nur in der Adventszeit, sondern auch im Sommer zurückzukommen. Ja, sie sagt: Zurückkommen. »Wenn es einen Ort gibt, an dem der Faschismus bestimmt nicht wiederkommt, dann doch den, wo er seine schlimmsten Siege feierte«, begründet sie ihre Haltung und fügt nachdenklich hinzu: »Ist es nicht interessant, wie sich die Dinge verändern?«16

      Haben sie sich nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle etwa wieder zum Schlechten verändert? Nein. Was sich verändert hat, sind nicht die Fakten, sondern die Wahrnehmung der Tatsachen und deren Bewertung.

      1. Bundesinnenminister Horst Seehofer bezeichnet den Rechtsextremismus als »die größte Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands«. Das war schon immer so. Aber vor 25 und auch noch vor drei Jahren konnte ich das nicht sagen, ohne ausgelacht zu werden.

      2. Das Attentat von Hanau auf deutsche Staatsbürger mit türkischen Wurzeln zeigt, dass Antisemitismus nur eine Spielart des Fremdenhasses ist. Aber schon beim Wörtchen ›nur‹ sträubt sich einem die Feder. Antisemitismus ist der Prototyp des Ressentiments gegen Bevölkerungsgruppen, die ausgegrenzt und im schlimmsten Fall ausgemerzt werden.17

      3. Jede Region hat ihre eigene Geschichte mit einer besonderen Ausprägung des Antisemitismus, einer eigenen Dynamik und typischen Folklore. Daher ist immer häufiger die Rede davon, dass der Antisemitismus ›viele Gesichter‹ habe. Wir begegnen bei uns drei Erscheinungsformen: Es sind dies (A) der rechtsradikale Antisemitismus, der seine Wurzeln noch am deutlichsten im Nationalsozialismus hat; (B) die hochtrabende linke Melange aus Antizionismus und Antiimperialismus, die sich als ›ehrenwerter Antisemitismus‹ brüstet; und (C) der von antisemitisch sozialisierten Immigranten importierte Judenhass.

      4. Die Floskel von den vielen Gesichtern des Antisemitismus täuscht darüber hinweg, dass es sich immer um dieselbe Visage handelt, die allerdings verschiedene Fratzen schneidet. Die Konstante: Dieses Gesicht ist geprägt vom Hass auf ›die‹ Juden. Also nicht vom Hass auf einzelne Personen, sondern auf ein ganzes Volk. Wir müssen uns klar darüber werden, was das denn ist: ein Antisemit. Wie so oft erhellt das ein jüdischer Witz besser als jede wissenschaftliche Definition. Ein Antisemit ist jemand, der Juden mehr hasst, als absolut notwendig ist. Die Nationalsozialisten haben den ›ewigen Juden‹ zum Untermenschen degradiert. Wir sollten dagegen besser vom ›ewigen Antisemiten‹ reden. Er brandmarkt die Juden als das absolut Böse in der Welt. Sie dienen als Sündenböcke für jede Art von Brunnenvergiftung. Der Attentäter von Halle ist, nach seiner Selbstdarstellung zu urteilen, ein typischer Antisemit.

      5. Es ist höchste Zeit, dass wir uns auf eine Arbeitsdefinition über Wesen und Wirken des Antisemitismus einigen. Mir gefällt die des israelischen Politikers Natan Sharansky am besten. Der in der Sowjetunion geborene Autor, der neun Jahre lang in einem sibirischen Gulag gedarbt hat und 1986 auf der Glienicker Brücke gegen einen sowjetischen Spion ausgetauscht worden ist, war von 2009 bis 2018 Leiter der Migrantenorganisation Jewish Agency for Israel. Mit seinem 3-D-Test hat er beschrieben, wie man legitime Kritik an Israel von Antisemitismus unterscheiden kann. Dabei filterte er drei Merkmale heraus. 1. D: Dämonisierung der Juden als Urheber allen Übels. 2. D: Doppelmoral und Doppelstandards (Was man sich herausnimmt, dürfen Juden noch lange nicht). 3. D: Delegitimierung des Staats Israel.18

      6. Noch vor kurzem diente der ›neue Antisemitismus‹ vielen dazu, den alten zu verschleiern. Jetzt sollten wir nicht ins andere Extrem verfallen und so tun, als spiele der importierte keine Rolle mehr. Ich plädiere dafür, jeden Ausländer, der ein Bürger dieses Landes werden will, zu fragen, ob er das Existenzrecht Israels anerkennt. Wer das nicht tut, sollte gar nicht erst bei uns aufgenommen werden.

      7. Im nächsten Schritt gilt es, strenger zwischen Schuld und Verantwortung zu unterscheiden. Offen

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