Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin - Группа авторов страница 7

Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin - Группа авторов

Скачать книгу

bemerkenswert stark vertreten; auf der äußersten Linken spielten auch Ostjuden eine wichtige Rolle – Rosa Luxemburg, Karl Radek und Eugen Leviné zum Beispiel, um nur die bekanntesten zu nennen.

      Was die Antisemiten politisch beweisen wollten, konnten sie doch nur jene glauben machen, die es glauben wollten. Jüdische Spekulanten und Schieber gab es ebenso wie nicht-jüdische. Wenn sich viele jüdische Intellektuelle der Arbeiterbewegung anschlossen, hatte das seinen tieferen Grund darin, dass das Proletariat sich der antisemitischen Propaganda gegenüber weitgehend immun gezeigt hatte und als einzige Klasse jenes System bekämpfte, das Arbeitern und Juden wesentliche Rechte vorenthielt. Als die Sozialdemokratie während des Ersten Weltkrieges ihre Oppositionsrolle und ihren (ohnehin verbal gewordenen) Internationalismus zunehmend aufgab, wandten sich viele Sozialisten jüdischer Herkunft den radikaleren Kräften der Linken zu, die die Kriegskredite und damit den ›Burgfrieden‹ ablehnten. Der Krieg wurde jedoch aus militärischen Gründen verloren, und die Revolution von 1918/19 brach nicht aufgrund irgendwelcher Aktivitäten von Juden aus, sondern weil breite Schichten der deutschen Bevölkerung – keineswegs nur die Arbeiter – Frieden und Demokratie wollten und beides bei Fortbestehen der Monarchie nicht erreichbar schien. Das Gros der Juden unterstützte im Übrigen nicht eine der sozialistischen Parteien, sondern die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, die ab 1918/19 ihre Hauptaufgabe darin sah, die Sozialdemokratie von sozialistischen Experimenten abzuhalten.

      Die Ostjuden waren das propagandistische Lieblingsthema der Antisemiten. Sie verschwiegen jedoch beharrlich, dass das deutsche ›Ostjudenproblem‹ zu einem guten Teil erst durch die Politik der Obersten Heeresleitung geschaffen worden war. Sie hatte 1914 in den besetzten Gebieten Russisch-Polens den dort lebenden Juden die materielle Existenzmöglichkeit weitgehend genommen und aus derselben Bevölkerungsgruppe dann Arbeitskräfte für die deutsche Rüstungsindustrie rekrutiert. Etwa 35.000 Ostjuden kamen auf diese Weise – unter mehr oder minder großem Zwang – in das Reich. Ungefähr ebenso viele Ostjuden befanden sich unter den Kriegsgefangenen und Ausländern, die vom Kriegsausbruch in Deutschland überrascht und hier interniert worden waren. Die Zahl der in Deutschland lebenden Ostjuden erhöhte sich somit zwischen 1914 und 1918 um etwa 70.000; nimmt man jene 80.000 Ostjuden hinzu, die schon vor 1914 in Deutschland gewohnt hatten, belief sich die Gesamtzahl bei Kriegsende auf etwa 150.000.

      Nach dem Krieg verloren die meisten ostjüdischen Rüstungsarbeiter ihren Erwerb; eine rasche Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete war aber schon deswegen nicht möglich, weil die neu entstandenen Staaten Ostmitteleuropas zunächst keine Neigung zeigten, die ostjüdischen Arbeitslosen bei sich aufzunehmen. Eine beträchtliche Zahl – etwa 30.000 – gelangte 1920/21 dorthin, wo es viele Ostjuden seit langem hinzog: nach Amerika. Auch in den folgenden Jahren wanderten Ostjuden über Deutschland in die Vereinigten Staaten aus. 1925, im Jahr der stärksten ostjüdischen Einwanderung, gab es in Deutschland knapp 108.000 Ostjuden – rund 30.000 mehr als 1910 auf dem gleichen Territorium gelebt hatten. Bis Mitte 1933 sank die Zahl der Ostjuden auf 98.000. Das waren 9,3 Prozent weniger als acht Jahre zuvor.

      Ich habe einige Zahlen genannt, um die tatsächliche Größenordnung der Judenfrage darzulegen. Die meisten Zeitgenossen haben das Problem, dass die Ostjuden für die deutsche Gesellschaft darstellten, maßlos überschätzt oder bewusst aufgebauscht. Es gab eine soziale Ostjudenfrage – aber nur für die unmittelbar Betroffenen. Ein Teil der alteingesessenen deutschen Juden reagierte auf die Minderheit in der Minderheit erschreckt und feindselig. Die orthodoxen Ostjuden erinnerten viele assimilierte deutsche Juden an ihre eigene Vergangenheit – eine unglückliche Vergangenheit, die sie für überwunden hielten, ja vielfach verdrängt hatten. Überdies schlugen die Ressentiments der nicht-jüdischen Umwelt, die sich gegen die als kulturell fremdartig empfundenen, sozial meist niedrigstehenden Neuankömmlinge aus dem Osten richteten, vielfach bereits in pauschalen Antisemitismus um. Eine öffentliche Distanzierung von den Ostjuden wurde jedoch nur von einer Minderheit der deutschen Juden gefordert und vollzogen. Dem jüdischen Unbehagen an der ostjüdischen Einwanderung zum Trotz übten sich die großen Organisationen des deutschen Judentums in Solidarität mit den diskriminierten Glaubensgenossen: Sie bemühten sich, durchaus nicht erfolglos, um die Beschäftigung arbeitsloser Ostjuden und um die Linderung der sozialen Not derer, die ohne Erwerb blieben.

      Wenn die Ostjuden also kein wirkliches soziales Problem für die deutsche Gesellschaft bildeten, wie verhält es sich dann mit jenen Juden, die deutsche Staatsbürger waren? Im Jahr 1925 gab es in Deutschland 564.000 Glaubensjuden. Das entsprach einem Anteil von 0,9 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bis zum Juni 1933 sank die Zahl auf 500.000 oder 0,8 Prozent. In ihrer sozialen Struktur unterschieden sich die deutschen Juden deutlich von ihrer Umwelt. 1925 lebten Juden dreimal so häufig in Großstädten wie Nichtjuden (48 zu 16 %); fast jeder dritte Jude hatte seinen Wohnsitz in Berlin. Juden waren massiv unterrepräsentiert in der Land- und Forstwirtschaft sowie in der Industrie und im Handwerk, dagegen stark überrepräsentiert in Handel und Verkehr. Es gab kaum jüdische Bauern und nur wenige jüdische Arbeiter. Dagegen waren Juden weit über dem Durchschnitt vertreten bei den Selbstständigen und Angestellten. Allerdings hatten sich gegenüber dem Kaiserreich die Relationen zwischen den selbstständig und den unselbstständig beschäftigten Juden zulasten der Selbstständigen, in der Mehrzahl übrigens kleine Ladenbesitzer, verschoben. Besonders groß war der Anteil der Juden bei Maklern, Rechtsanwälten, Ärzten, Redakteuren und Regisseuren. Für zwei der oben genannten Berufe möchte ich das mit Zahlen belegen: Von 100 Ärzten waren 1933 elf Juden, von 100 Rechtsanwählten und Notaren sogar sechzehn. Juden hatten ferner starke Stellungen in der Textilindustrie und im Eisen- und Schrotthandel, wo um 1930 jeweils etwa 40 Prozent aller Unternehmen im jüdischen Besitz waren; Juden kontrollierten vier Fünftel des Umsatzes der deutschen Warenhäuser und knapp ein Fünftel der Privatbanken.

      Die deutschen Juden waren also in den privilegierten Schichten der Gesellschaft überdurchschnittlich, in den minderprivilegierten Schichten unterdurchschnittlich vertreten. Nicht mehr der ›Viehjude‹ und der Hausierer, sondern der Arzt und der Rechtsanwalt waren die gesellschaftlichen Symbolfiguren des deutschen Judentums. Dieser soziale Aufstieg, der im Vormärz begonnen und sich im Kaiserreich beschleunigt hatte, war, so paradox es klingt, nicht zuletzt eine Folge lang andauernder und vielfach verinnerlichter Diskriminierung. Den ausgeprägten Hang zur Selbstständigkeit kann man, zum Teil jedenfalls, aus dem Wunsch erklären, Reibungen mit antisemitischen Arbeitgebern und Arbeitskollegen tunlichst zu vermeiden. Viele Juden bevorzugten wirtschaftliche Betätigungen, in denen es keine überlieferten Zugangsbeschränkungen gab oder die ihnen seit alters her offengestanden hatten. Das starke Engagement in der Textilindustrie lässt sich aus der Tradition des Altkleiderhandels ableiten – einem den Juden seit Jahrhunderten vertrauten Gewerbezweig. Ähnliches gilt für das Gesundheitswesen. Andere freie akademische Berufe wurden oft von Juden gewählt, weil ihnen der öffentliche Dienst im Kaiserreich nahezu völlig versperrt geblieben war. Was vielen als jüdische Machtkonzentration erschien, war, so gesehen, nur die Kehrseite fortwirkender Benachteiligung.

      Von einem beherrschenden Einfluss der Juden auf die deutsche Wirtschaft konnte keine Rede sein. Juden waren in den Schlüsselindustrien faktisch gar nicht vertreten, und sie waren weit davon entfernt, das Bankwesen in der Hand zu haben. Verglichen mit der Zeit vor 1914 war die wirtschaftliche Bedeutung der jüdischen Privatbanken sogar stark zurückgegangen. In der Politik spielten Juden nach der revolutionären Gründungsphase der Republik keine herausragende Rolle mehr. Groß war dagegen ihr Gewicht in der Presse – man denke nur an die Frankfurter Zeitung, das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung – sowie in allen Zweigen des Kulturbetriebs, darunter dem Kabarett und dem neuen Medium Film. Juden traten also häufig als ›Multiplikatoren‹ und nicht selten als ›Modernisierer‹ auf, und beides trug dazu bei, dass ihre tatsächliche Macht überschätzt wurde. In Wirklichkeit war die soziale Position der deutschen Juden in der Weimarer Republik das Produkt von Emanzipation und Diskriminierung – eine Entsprechung des beschränkten Freiraums, der ihnen real zugestanden worden war.

      In der Frühphase der Weimarer Republik spielten, so möchte ich den ersten Abschnitt zusammenfassen, konjunkturelle Bewegungen keine ausschlaggebende Rolle für das Erstarken des Antisemitismus.

Скачать книгу