Sammelband 3 Thriller: Neue Morde und alte Leichen. Thomas West
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Pirelli feixte Ricky aus höhnischen Augen an. Eine Menge Sommersprossen überzogen sein stupsnasiges Gesicht. Ein Streichholz klemmte zwischen seinen Zähnen. Die anderen vier lauerten auf Rickys Reaktion.
Ihr kennt mich nicht, dachte er und sagte leise: „Hi.‟
„Na, klappt doch schon ganz prima, Kurzer‟, rief Pirelli. „Wir kriegen dich noch hin, wirst sehen.‟ Die anderen lachten.
„War aber ein kurzer Gruß‟, tönte einer von Pirellis Vasallen. Ein Junge mit schwarzem Flaum um das Kinn. Er hieß Amoz Levington. „Ein bisschen höflicher – los, Zwerg!‟
Ricky wünschte sich den Tod in solchen Augenblicken. „Hi.‟ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Wie geht’s so?‟ Die Burschen lachten und applaudierten.
Vor zwei Jahren war Rickys Familie aus Sheridan, Wyoming, nach New York City gezogen. In die East Village. Schon in Sheridan war Ricky ein Einzelgänger gewesen, aber man hatte ihn wenigstens in Ruhe gelassen. Mit dem Umzug nach New York City vor zwei Jahren hatte für Ricky ein Leidensweg begonnen.
Lester Pirelli unterhielt seinen Fan-Club mit obszönen Witzen. So laut, dass man es im halben Waggon hören konnte. Häufig flocht er Worte wie winzig, kurz oder Zwerg ein, sprach von winzigen Hirnen, kurzen Schwänzen und so weiter, und so weiter.
Die anderen vier fanden es witzig. Sie fanden alles witzig, was der Sommersprossige von sich gab. Sie lachten.
Ricky biss die Zähne zusammen. Ihr kennt mich nicht! Seine Faust verkrampfte sich um die Haltestange. Sein Spiegelbild in der dunklen Scheibe hatte schmale Lippen und Augen.
Zwei Stationen weit musste er fahren. Gleich nach der ersten stellte er sich vor der Tür auf. Wenn die U-Bahn an der First Avenue hielt, wollte er unter den ersten sein, die aussteigen konnten. Nicht auch noch den Weg von der Haltestelle bis zur Highschool Pirellis Spott ausgesetzt sein.
„Keine Angst, Kurzer, wir bleiben in deiner Nähe.‟ Lester Pirelli stand plötzlich neben ihm. Er war zwei Köpfe größer als Ricky. „Sonst verläufst du dich noch in dieser großen Stadt.‟ Sein Anhang umringte Ricky.
Mit hochgezogenen Schultern und einem heißen Knoten im Bauch ließ Ricky ihre Sprüche über sich ergehen.
Die Bahn hielt. Zischen, Türen, die sich öffneten, dann hinaus auf den Bahnsteig, hinein in die Menge der Wartenden. Die Pirelli-Gang wich nicht von Rickys Seite.
Ricky war auf jede Gemeinheit gefasst. Aber hinten hatte er keine Augen. Jemand hakte ihm plötzlich den rechten Fuß weg. Er stolperte und schlug lang hin. Die Pirelli-Gang brach in schallendes Gelächter aus.
„Hey, Kurzer!‟ Pirelli schlug sich auf die Schenkel vor Vergnügen. „Noch ein bisschen unsicher auf den Beinen heute Morgen! Oder suchst du dein Hirn?‟
Ricky blickte hoch. Der befriedigte Ausdruck in dem schwarzen Gesicht verriet ihm den Jungen, der ihm das Bein gestellt hatte. Er hieß Joseph.
Du weißt ja nicht, wen du vor dir hast ... du weißt es ja nicht ... Er rappelte sich hoch und kämpfte mit den Tränen.
Bald ließen sie die Treppe vom Bahnsteig zur Straße hinter sich. „Heiße Schuhe hast du da, Kurzer.‟ Pirelli schielte neidisch auf Rickys Nike-Sportschuhe. „Wenn sie nicht so klein wären, dürftest du sie mir schenken.‟
Noch zwei Blöcke bis zur 12th Straße, dachte Ricky, noch zwei Häuserblöcke.
„Macht dir nichts draus ...‟ So kräftig schlug Lester dem Kleineren auf die Schulter, dass Ricky ins Stolpern kam. „Is’ nich’ schlimm, wirklich nicht, Kurzer. Du zahlst mir einfach eine Ablöse.‟ Die anderen stießen sich an und feixten. „Sagen wir, fünfzehn Dollar. Zusätzlich zum Schutzgeld. Alles klar?‟
Ricky nickte hastig. Ihr wisst ja nicht, wen ihr vor euch habt ... ihr habt ja keine Ahnung ... Seine Blicke krochen an den Fugen der Bürgersteigplatten entlang.
„Wann kriegen wir überhaupt das Schutzgeld? Der Oktober ist auch schon wieder sieben Tage alt!‟
„Am nächsten Wochenende krieg ich Taschengeld‟, sagte Ricky. Von den fünfundzwanzig Dollar Taschengeld drückte er Monat für Monat elf Dollar an Pirelli und seine Gang ab – drei Dollar für Pirelli und je zwei Dollar an jeden der vier anderen.
Manchmal musste er auch eine Runde Hot Dogs ausgeben, und von Zeit zu Zeit verbrachte er Stunden vor dem Computer, um die Songs aus dem Internet herunter zu laden und auf CDs zu brennen, die Lester Pirelli in Auftrag gab. Oder Pirelli wollte irgendwelche Software, die Ricky dann auftreiben musste.
Noch ein Häuserblock, nur noch ein Häuserblock, und dann hundert Meter bis zur Schule.
Wenn er nicht spurte, verstärkten sie den Druck auf ihn – hingen ihm irgendwelche Verstöße gegen die Schulordnung an, schwärzten ihn bei den Lehrern an, schikanierten ihn vor versammelten Klasse oder verprügelten ihn.
„Okay, nächsten Montag also.‟ Wieder landete ein Schlag auf Rickys Schulter. Diesmal traf Lester Pirellis geballte Faust. Tränen stiegen Ricky in die Augen. „Werden dich hin und wieder dran erinnern.‟
Ihr habt ja keine Ahnung, mit wem ihr euch einlasst, keine Ahnung habt ihr!
Dann endlich die Kreuzung zur 12th Straße. Von weitem sah Ricky Schüler in Gruppen vor dem Schulhof stehen. Der Schulbus fuhr vorbei. Pirelli und seine Vasallen winkten einigen Mädchen im Bus.
„Man sieht sich, Thompson!‟ Ein vorläufig letzter Schlag. Lester Pirelli und die anderen vier spurteten zur Bushaltestelle, wo der Bus stoppte. Pirellis Freundin stieg dort aus.
Ricky wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. Wut brannte in seinen Gedärmen, ungeheure Wut. „Schwein ... verfluchter Hund ... der Teufel soll dich holen!‟ Er fluchte in sich hinein, während er sich dem Schulgelände näherte. „Euch alle soll der Teufel holen!‟
Am Eingang des Schulgeländes, zwischen all den Gruppen von plappernden und lachenden Jungen und Mädchen, stand ein unglaublich fetter Bursche und mampfte Bagels aus einer Tüte.
Er trug eine Schildkappe aus Leder, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte. Er plauderte mit niemandem, er lachte mit niemandem – er stand allein und schien sich für weiter nichts als für seine Bagels zu interessieren.
Jack O′Neill, seit vier Monaten Rickys einziger Lichtblick.
Ricky beschleunigte seinen Schritt. Er winkte, als er sicher sein konnte, dass Jack ihn wahrgenommen hatte. Jack deutete ein Nicken an und biss von seinem Bagel ab.
Ein Bagel mit Frischkäse. Jack O′Neill verdrückte jeden Morgen drei davon. Gleich nach dem Frühstück auf dem Weg zur Schule. Inzwischen kannte Ricky die Gewohnheiten seines einzigen Verbündeten.
„Alles klar?‟ Ricky blieb vor dem viel größeren und mehr als doppelt so schweren Burschen stehen. Der brummte irgendetwas Zustimmendes.
„Und selbst?‟ Jack war ein Jahr älter als Ricky. Er machte die Zehnte zum zweiten Mal. Auch jetzt behielt er gerade so den Anschluss.
Nicht weil er zu