Liebst du um Schönheit. Thomas Hampson

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Liebst du um Schönheit - Thomas Hampson

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meines letzten Highschool-Jahres begegnete ich der wohl außergewöhnlichsten Gesangspädagogin von ganz Spokane: der katholischen Nonne Sister Marietta Coyle. Sie hatte bei der legendären Sopranistin Lotte Lehmann Gesang studiert, die während der NS-Zeit nach Amerika emigriert war. Die Kirche hat Schwester Marietta sehr unterstützt, sowohl als Sängerin – sie hatte bis zum Schluss einen gesunden und vollen lyrischen Sopran – als auch als Gesangslehrerin.

      Eines Tages kam Schwester Marietta auf mich zu und fragte: »Was hast du eigentlich vor, wenn du deinen Highschool-Abschluss gemacht hast?« – »Ich gehe an die Eastern Washington University und werde Rechtsanwalt«, sagte ich – was man eben so sagt als 17-Jähriger. »Das ist toll«, entgegnete sie. »Du bist intelligent, du hast einen wachen Verstand, der trainiert werden muss.« Und dann fügte sie hinzu, ihr sei während der letzten Jahre klar geworden, dass ich auch eine künstlerische Seite hätte, die ich nicht vernachlässigen sollte. »Deine Stimme, junger Mann, ist sehr schön«, sagte sie, »aber was mich auch interessieren würde, ist deine künstlerische Persönlichkeit, die ich zu erkennen glaube. Wenn du mehr darüber wissen willst, ruf mich an.«

      Natürlich habe ich sie angerufen, und wir haben danach oft lange Gespräche geführt. Allerdings begriff ich längst nicht alles, was sie mir sagte. Sie wollte wissen, was ich an der Highschool gelernt hätte. Ich erzählte ihr von meinen Schulfächern: Geschichte, Literatur, Englisch. Und dass ich mich für eine Fremdsprache entschieden hätte – Deutsch. Meine Englischlehrerin war eine gebürtige Deutsche, die auch in ihrer Muttersprache unterrichtete. Sie war ziemlich streng und gefürchtet, aber ich war einer ihrer Lieblingsschüler. Für kaum einen anderen Lehrer habe ich so viel Hausaufgaben gemacht. Unter ihrer Anleitung haben wir eine »deutsche« Sternsinger-Gruppe gebildet und jede Menge deutsche Lieder gesungen, die sogar aufgenommen wurden.

      Als ich Sister Marietta von den Sternsingern erzählte, meinte sie: »Du weißt, dass es viele deutsche Gedichte gibt, die vertont wurden? Von Franz Schubert zum Beispiel. Hast du je von Schubert gehört?« Ich kannte Schubert nur vage. Sie sagte, er habe über 500 Lieder geschrieben – was mich erstaunte. Dann fragte sie nach Schumann. Ich hatte eine Etüde von ihm auf dem Klavier gespielt, aber mehr kannte ich nicht. »Ich hätte da eine Idee, vielleicht ist das was für dich«, sagte sie. Sie ging mit mir in die Bibliothek und gab mir von der Schumann- und von der Schubert-Ausgabe der Edition Peters jeweils den ersten Band. Dann gingen wir in die Hörbibliothek, einen kleinen Raum, in dem man in Ruhe Schallplatten hören konnte. Sie drückte mir unter anderem eine Fischer-Dieskau- und eine Hermann-Prey-Platte mit Liedern von Schubert, Schumann in die Hand – was genau es war, weiß ich nicht mehr. Und sie sagte: »Hör dir das mal an, vielleicht gefällt es dir ja. Wenn du etwas findest, was dich interessiert, können wir gerne daran arbeiten. Ich fände es jedenfalls gut, wenn du ein Schubert-Lied lernen würdest.«

      Nun, das Ergebnis war: Ich war wie besessen. Stundenlang habe ich in den Schubert- und Schumann-Bänden gelesen, habe mir die Platten angehört, die Noten verfolgt und war vollkommen hin und weg. Die Idee, ein Gedicht in eine musikalische Sprache zu übersetzen, fand ich umwerfend, und ich habe von nichts anderem mehr gesprochen. Die erste Schallplatte, die ich mir selbst gekauft habe, war von Dietrich Fischer-Dieskau, mit Goethe-Liedern von Schubert und anderen. Fischer-Dieskau hat mich schon sehr früh ungemein beeindruckt und beeinflusst. Diese Platte war für mich der Heilige Gral. Ich bin dann häufig in öffentliche Bibliotheken gegangen, um Kassetten oder Nachschlagewerke auszuleihen, und sehr rasch hat sich mir eine neue Welt erschlossen.

      Das war gerade in der Zeit, als ich mich, nicht eben voller Enthusiasmus, dem Anwaltsberuf zuwenden wollte. Nach meinem Highschool-Abschluss verließ ich die Welt der Adventisten und schrieb mich an einem Public College ein, der Eastern Washington University. Ich wollte dort mein Grundstudium absolvieren, um danach an die Law School gehen zu können. Schwester Marietta aber ließ nicht locker. Sie stellte mich dem Musikdirektor des Sinfonieorchesters von Spokane vor, Donald Thulean. Er wollte die Johannes-Passion von Bach aufführen, und sie meinte, er könnte mich dabei gebrauchen. Er ließ mich vorsingen, gab mir Noten und wollte wissen, ob ich in der Lage sei, danach zu singen. Ich konnte zwar vom Blatt lesen, aber ich hatte Gesangspartien bis dahin immer auswendig gelernt und fühlte mich etwas unsicher. Doch er war offenbar von meiner Stimme angetan, und ich durfte tatsächlich den Pilatus und die Bass-Arien singen.

      Schwester Marietta Coyle war auch diejenige, die mir von der Music Academy of the West im südkalifornischen Santa Barbara erzählte. Sie hatte diese achtwöchige Sommerakademie, die 1947 von Lotte Lehmann gemeinsam mit dem ebenfalls in die USA emigrierten Dirigenten Otto Klemperer und einigen anderen Musikern und Kunstmäzenen gegründet wurde, einst selbst besucht. Obwohl Lotte Lehmann bereits 1976 gestorben war, wollte Schwester Marietta unbedingt, dass auch ich die Erfahrung einer solchen Ausbildung machte. »Wir müssen dich an einen Ort schicken, an dem du dich weiterentwickeln kannst«, erklärte sie. »Du bist bereit für die nächste Etappe.« Mit 22 Jahren hatte ich schon einige Preise gewonnen und mir als Sänger in Spokane einen gewissen Namen gemacht. Mit meinem Politologie- und Jurastudium war ich fast fertig und sehr aktiv als gewählter Studentenvertreter, aber schon recht fokussiert auf die Musik. Kurz: Ich ließ mich auf das Abenteuer ein.

      Lotte Lehmanns Erbe hatte Martial Singher übernommen, ein sehr angesehener französischer Bariton. Ein Künstler von seltenem Rang und eine wahre Instanz. Er war es auch, der Maurice Ravels drei Don Quichotte-Lieder uraufgeführt hatte. Neben Singher prägte Gwendolyn Koldovsky, die ehemalige Klavierbegleiterin Lotte Lehmanns, in ihrer Funktion als Leiterin der Abteilung Liedbegleitung an der Music Academy of the West maßgeblich die Sommerakademie. Und diese beiden Koryphäen, Lotte Lehmanns Pianistin und einer von Ravels bevorzugten Sängern, sollten nun meine Geschicke beeinflussen!

      Bei der Sommerakademie kam ich zum ersten Mal in meinem Leben mit gleichaltrigen angehenden Sängern in Berührung, die jedoch wesentlich ehrgeiziger und zielgerichteter eine professionelle Karriere anstrebten als ich. Ich hatte einiges an deutschem Lied­repertoire zugewiesen bekommen, was allein auf musikalischer Ebene schon schwierig genug für mich zu lernen war. Und dann auch noch auf Deutsch! Immerhin hatte ich dank meiner früheren Lehrerin ja schon begonnen, mich ein wenig mit dieser Sprache zu beschäftigen. Ich liebte dieses Repertoire innig. Für mich war das die Vollendung im Gesang. Dieser Drang, Schönheit zu gestalten!

      Wir Musikstudenten hatten glücklicherweise Zugang zur Uni­Bibliothek von Santa Barbara. Dort stand ich zum ersten Mal vor einer Wand mit Langspielplatten. Ich war überwältigt und verbrachte von nun an Stunden um Stunden dort. Ich saß einfach da und verschlang die Musik. Es war so aufregend und beeindruckend, diese Noten in der Hand zu halten, Nachschlagewerke zu studieren und Wörterbücher zu konsultieren! Das war schlicht und einfach toll. Ich habe diese Art von Selbststudium geliebt und akribisch meine Aufzeichnungen gemacht.

      Studentenvertreter an der Eastern Washington University, 1975

      © Privatarchiv Thomas Hampson

      Mein erster Sommer 1978 in Santa Barbara, also mit gerade einmal 23 Jahren, markierte den ersten Wendepunkt in meinem Leben. Ich kam nach Spokane zurück, und meine Neugier auf die Welt des professionellen Gesangs war mehr als geweckt. Ich kaufte mir eine Karte, um in Seattle den Waliser Bariton Sir Geraint Evans in einer seiner Paraderollen – als Falstaff – zu hören. Was für ein Erlebnis! Ein anderes Mal bin ich die gut vier Stunden nach Seattle gefahren, um Robert Merrill zu hören: Er war zu jener Zeit bereits eine Legende und einer der zugänglichsten Sänger überhaupt – ein Idol für alle jungen amerikanischen Sänger damals. Seine Art des Gesangs und der Klang seiner großartigen Stimme faszinierten mich ungemein.

      Die Zeit in Santa Barbara hatte mir auch ein neues Selbstbewusstsein verliehen. Es war offensichtlich geworden, dass meine stimmlichen wie gesanglichen Fähigkeiten ausbaufähig waren und dass die Chancen für mich, Profisänger zu werden, gar nicht so schlecht standen. Ich beschloss,

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