Im wilden Balkan. David Urquhart
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Dort saß ich und sah die Sonne untergehen hinter dem Olymp, der seine breiten Schatten auf die thermaïsche Flut warf, und als die Strahlen nicht mehr auf die weißen Mauern von Salonika fielen, stiegen sie von Gipfel zu Gipfel auf den Bergen von Mygdonia1, deren höchster Kamm noch in den Abendstrahlen glänzte, die schon vor zwanzig Minuten für Salonika verschwunden waren. Als die Sonne weg war, wurde der Seewind frischer, und es wurde kühler als eben angenehm war. Ich hatte den ganzen Morgen unter der Sonne geglüht, indem ich meine eiligen Reiseanstalten traf. Die plötzliche Veränderung und das Frösteln der Atmosphäre brachte mich ebenso plötzlich auf den Gedanken, mit der Zeit Rechnung zu halten und, wie mit etwas Vergangenem, mit dem Jahr abzurechnen, dessen Flucht unbeachtet entschlüpft war. Meine Tage, Stunden und selbst Minuten waren so vollständig in Anspruch genommen, seit zum letzten Mal der Saft in die Bäume getreten war, dass ich niemals Zeit dazu gehabt hatte, an die Zeit zu denken. Der Lauf der Zeit schien verlängert durch die Ausdehnung des Raumes, den ich überschritten hatte, durch das Interesse und die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, welche meine Aufmerksamkeit beschäftigten. Betrachtete ich aber die Zeit eben als Zeit, so schien sie so kurz geworden zu sein, als überschritte sie kaum das Maß eines Monats oder von vierzehn Tagen. Nun aber erinnerte mich das plötzliche Frösteln, das mich bewog, den Mantel fester umzuziehen, dass fast ein ganzer Umlauf der Jahreszeiten vollendet war, dass wir bald einer neuen Ziffer bedürften, um das Weltalter zu bezeichnen. Es liegt etwas das Dasein so Umfassendes in der Verbindung der Gedanken mit den Sachen, des inneren Gemüts mit der äußeren Natur, dass man mit Dankbarkeit und Vergnügen auf den Plätzen verweilt, die solche Verbindungen hervorriefen. Mit solch einem Gefühl erinnere ich mich an die Plattform im Dorf Battis, wo, auf die Weinberge umherblickend, die ihrer errötenden Last beraubt waren, auf das mit herbstlichen Farben zart gefärbte Laub ich mich zur Untersuchung und Musterung meines eigenen inneren Wesens wandte. Während ich von draußen den Schauer des herannahenden Winters fühlte, lauschte ich drinnen dem Bedauern gleich unwiederbringlicher Gelegenheiten und Stunden und fasste für die Zukunft vielleicht nicht weniger vergebliche Entschlüsse.
Dieses Dorf hatte früher Yussuf Pascha1 gehört und war durch die Einziehung seines Vermögens in die Hände der Regierung gekommen, welche ein Zehntel vom Bruttoertrag bekommt. Jeder männliche Erwachsene hat dreißig Piaster, oder etwa zehn englische Schilling, Karaç2 zu bezahlen und jede Familie fünfzig Piaster Agalik für die Kosten der Lokalverwaltung. Außerdem aber sind in Folge der Not oder der Unordnung der Zeiten willkürliche Kontributionen erhoben worden, die sich für jedes Vierteljahr auf dreißig Piaster für jede Feuerstelle beliefen, was im Jahr fast ein Pfund Sterling für jede Familie ausmacht, wobei die Ärmeren weniger, die Reicheren mehr bezahlen. Die Leute sagten, sie hätten sich über ihre Steuern und Abgaben nicht zu beschweren, aber sie würden heftig bedrückt durch die griechischen Klephten, durch die Passagen der Agas aus Albanien – und ferner durch eine von der Gemeinde früher eingegangene Schuld, um eine Wasserleitung zur Bewässerung ihrer Felder zu erbauen. Diese Schuld betrug 2000 Pfund mit einem Zinsfuß von zwanzig Prozent. Das Dorf hatte die Schuld gerade vor dem Ausbruch der griechischen Revolution aufgenommen, als es 280 Häuser zählte. Damals rechneten sie darauf, in anderthalb Jahren alles bezahlt zu haben, aber in der Zwischenzeit ereignete sich der Aufstand des Berges Athos, und dies Dorf fiel als erstes Opfer. Es war mehrere Jahre ganz verlassen geblieben, jetzt sind sechzig Familien zurückgekehrt; andere wären schon längst wiedergekommen und manche würden noch jetzt kommen, gäbe es nicht jene Schuld, die natürlich noch auf der Gemeinde lastet, obgleich die Zinsen für die letzten zehn Jahre vom Gerichtshof zu Salonika gestrichen sind und die Münzverschlechterung die ursprüngliche Schuld bedeutend verringert hat. In der Tat würde ohne diese Münzverschlechterung der größte Teil des infolge der griechischen Revolution verheerten Landes jetzt eine Einöde sein.
Von Battis nach Kardiá sind es zehn Meilen. Der Weg führt über eine wellenförmige Gegend1, niedrige Bergspitzen dicht neben uns bildeten in der Regel den Horizont links, rechts darüber hinaus und zwischendurch bot sich uns immer der Anblick des Golfes und des Olymps, der sich am gegenüberliegenden Ufer anscheinend in zwei majestätischen Massen erhob. Weiter hinab konnten wir durch die Ausdünstungen des schwülen Tages noch Ossa und Pelion unterscheiden. Die Gegend wurde nun unfruchtbar und abschreckend; früherer Anbau hatte die Wälder vernichtet, spätere Brände der Schäfer hatten das Unterholz zerstört und die Jahreszeit hatte das Grün des niederen Grases verwischt. Zur Linken ließen wir Adalu liegen, ein türkisches Yürük-Dorf1 von dreißig Familien. Auch diese Leute waren dem gemeinsamen Geschick des Bezirkes erlegen, zu dem sie gehörten. Nach dem griechischen Aufstand war das Dorf mit den anderen den Flammen übergeben worden. Die Bewohner kehrten aber bald zurück und befanden sich jetzt wieder in derselben Lage wie vor dem Aufstand.
Kardiá ist ein Tschiftlik oder Pachthof des Achmet Bey von Salonika. Es ist ein eingefriedeter Raum von 120 Quadratschritten, umgeben mit Bauernhäusern, Scheunen, Ställen und so fort, obgleich jetzt fast alles in Trümmern liegt. Vor dem Aufstand arbeiteten die Bewohner mit zehn Joch von vier Ochsen, jetzt haben sie nur vier Joch von zwei Ochsen. Das Pachtsystem ist weder das des französischen Maiers (métayer) noch das der englischen Pacht (rent), insofern diese Ausdrücke überhaupt auf griechische Worte und Gebräuche passen, wonach der Gewinn zwischen Pächter und Verpächter geteilt wird. Zuweilen liefert der Pächter Arbeit, Vieh, Gerät und Saat; zuweilen liefert der Verpächter das eine oder das andere; wer aber auch die verschiedenen Anteile an Vieh oder Arbeit trägt, der erhält in dem ihm zustehenden Verhältnis Anteil am reinen Ertrag, der jedem Zweig der Ausgabe zugedacht ist. So liefert hier zum Beispiel Achmet Bey alles, man könnte also glauben, dass die Bauern gedungene Leute und der Pächter ein Aufseher gewesen. Aber dem war nicht so; der Pächter und die Bauern hatten zweiundzwanzig Prozent vom reinen Ertrag, die sie so unter sich teilten, dass der Pächter sieben Prozent bekam, da ihm die Bewirtung der Gäste zur Last fiel; die übrigen fünfzehn wurden nach Verhältnis der Arbeit, die jede Familie leisten konnte, unter die Bauern verteilt. Die Art der Verteilung ist folgende: Der Ertrag wird in Einheiten von 110 Maß geteilt, wovon die überzähligen zehn Maß als Saatkorn für das nächste Jahr abgesondert werden; zehn werden abgesondert zum sogenannten Spahilik, dem Zehnten für den Kriegsdienst, im vorliegenden Falle war Achmet Bey selbst der Spahi; zehn für Zabitlik oder Agalik, also die Ausgaben der lokalen Verwaltung; zweiundzwanzig für die Arbeit, so bleiben 58 Teile von 110 als Gewinn übrig. Hätte das Kapital den Pächtern gehört, so wären noch 35 mehr für sie abgegangen, was 23 Prozent vom Ertrag als Pachtzins übrig gelassen hätte. Der Aufseher erzählte mir, dass nach Abzug aller Unkosten der Eigentümer bis zum Betrag von zehn Pfund für jedes Paar Ochsen gewinne.
Überall, wo man im Morgenland einen Blick auf die Fundamente wirft, wird man auf die Festigkeit und Dauerhaftigkeit des Materials gestoßen, aus dem sie verfertigt sind. Wie groß auch die vorherrschende Unwissenheit sein mag, wie sehr zurück auch die so wichtige Wissenschaft und Praxis des Landbaues, wie sehr die Rohheit des Ackergerätes zu beklagen ist und der Mangel an verbesserten Transportmitteln, wie viel besitzen diese Menschen nicht doch an der beständigen Verbindung des gegenseitigen Interesses; nirgends ist Arbeit vom Tagelohn abhängig und nirgends ist das Wohlbefinden der Gemeinde von dem der einzelnen Mitglieder unabhängig. Glücklicherweise gibt es hier keine Gesetze, die sich in menschliche Interessen und das Gewerbe mischen, und deshalb haben die Orientalen keine Philosophen, die über die moralischen, gesellschaftlichen und politischen Übel schwatzen, die aus solchen Gesetzen entstanden sind.
Der Kiaja1 des Pachthofes erkundigte sich sehr gründlich nach unserer Art und Weise, Butter und Käse zu bereiten, und ich gab mir beträchtliche Mühe, ihm dieselben begreiflich zu machen. Er drang in mich, nächstes Jahr wieder zu kommen, um zu sehen, welche Fortschritte er gemacht haben würde.
Butter und Käse sind fast im ganzen Orient in Folge des Gebrauchs von Schafs- und Ziegenmilch schlecht, die man erwärmen oder kochen muss, um den Rahm zum Steigen zu bringen. Zuweilen machen sie sogar die Milch sauer, um Butter zu gewinnen, und in der Regel wird von der so behandelten Milch Käse gemacht. Unsere Art, Butter aus Rahm von kalter Milch zu machen, kommt