Transformativer Realismus. Marc Saxer

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Transformativer Realismus - Marc Saxer

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Immer mehr Menschen sehen daher in der neoliberalen Politik Brüssels nicht die Lösung, sondern einen Teil des Problems. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, muss Europa seinen Bürgern zeigen, dass es an ihrer Seite steht. Ist der Status quo der Währungsunion unhaltbar, und der Sprung in die Europäische Republik politisch blockiert, gilt es die Europäische Union fit für die Welt von morgen zu machen. In einer bedrohlichen Umwelt voller Krisen und Kriege ist die solidarische und souveräne Schutzmacht Europa die Plattform, auf der sich eine breite gesellschaftliche Allianz versammeln kann (Kapitel 25).

      Um den Kampf gegen rechts zu gewinnen, muss der Politik der Spaltung eine Politik des sozialen Zusammenhalts entgegengesetzt werden (Kapitel 26). Um der verbreiteten Furcht vor dem Kontrollverlust entgegenzuwirken, müssen den Bürgern die Mittel an die Hand gegeben werden, die es ihnen erlauben, ihr Leben und das ihrer Gemeinschaft selbstbestimmt zu gestalten. Durch die Rückkehr des schützenden und fürsorgenden Staates in die Fläche wird den Verunsicherten signalisiert, dass sie nicht im Stich gelassen werden. Gesunde Kommunen ermöglichen die Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben. Die lebenswerten Heimaten erkennen das menschliche Bedürfnis nach Zusammenhalt, Zugehörigkeit und Halt im Taumel des Wandels an. Fern von jeder Deutschtümelei, sind sie weltoffene Orte mitten in Europa.

      Um die Systemkrise zu überwinden, strebt der Transformative Realismus den Umbau der gesellschaftlichen Ordnung von Kopf bis Fuß an. Statt in der Pose des moralischen Appells zu verharren, sucht er nach gangbaren Wegen, diesen Umbau politisch zu gestalten. Auch der Transformative Realismus versteht Politik als die Kunst des Möglichen. Er weiß aber, dass kleinere Reparaturen nicht ausreichen, um die vielen miteinander verwobenen Krisen zu lösen. Echte Politikwechsel können nur im Ringen mit den Beharrungskräften des Status quo erreicht werden. Sinn und Zweck des Transformativen Realismus ist daher die Bildung breiter gesellschaftlicher Allianzen, die genügend Machtmittel mobilisieren können, um die notwendigen Pfadwechsel durchzusetzen. In den letzten Kapiteln werden fünf Plattformen vorgestellt, auf denen sich solche transformativen Allianzen versammeln können. Um die Systemkrise zu überwinden, werden weitere entwickelt werden müssen. Dieses Buch will zeigen, wie das gelingen kann.

      Teil I

      Der Neoliberalismus kann die Systemkrise nicht lösen

       »Practical men, who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influence, are usually the slaves of some defunct economist. Madmen in authority, who hear voices in the air, are distilling their frenzy from some academic scribbler of a few years back.«

      John Maynard Keynes

      Die Coronakrise sendet wirtschaftliche Schockwellen um die Welt. Ob und wann die entwickelten Volkswirtschaften auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückkehren, ist ungewiss. China hat zwar nach dem scharfen Einbruch schnell zu einem Wachstumskurs zurückgefunden, aber weite Teile Europas stecken tief in der Rezession. Auch in Deutschland wächst die Wirtschaft wieder, dennoch bleiben die Konjunkturaussichten für den Exportweltmeister getrübt, solange seine Absatzmärkte im Coronafieber liegen1. Jenseits konjunktureller Zyklen steht weiter die düstere Prognose des einflussreichen Ökonomen Larry Summers vor einer »Säkularen Stagnation«2, also einer Phase schwachen Wachstums ohne nennenswerte Beschäftigungseffekte, im Raum.

      Über die Ursachen dieser säkularen Stagnation herrscht ein ideologischer Glaubenskrieg, dessen Ursprung auf die Auseinandersetzung zwischen John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek zurückgeht. Im Kern lässt sich die Debatte zwischen den beiden Ökonomen, die die Gesellschaften des Westens seit über einem Jahrhundert polarisiert, auf die Frage herunterbrechen: Ist der Staat das Problem und der Markt die Lösung, oder ist es genau umgekehrt?

      Die Erben Keynes vermuten die Ursache der Krise in der schwächelnden Nachfrage im Privatsektor. Der Staat soll daher durch Investitionen und Konsum die aggregierte Nachfrage ankurbeln. Die staatliche Starthilfe, so die Hoffnung, könne einen selbsttragenden Wachstumszyklus in Gang bringen.

      Was löst aber die Nachfragekrise aus, an der die Volkswirtschaften des Westens aus keynesianischer Sicht seit Jahrzehnten leiden?3 Als Grundübel wird die Konsumschwäche in den übersättigten Märkten des Westens angesehen. Alternde Gesellschaften legen einen hohen Teil ihrer Einkommen als Altersvorsorge auf die hohe Kante. Anders als in Ländern mit schnell wachsenden Bevölkerungen wird die hohe Sparquote nicht durch jüngere Generationen mit größerem Konsumbedürfnis ausgeglichen. Die Konsumnachfrage wird zudem von der explodierenden sozialen Ungleichheit gedrosselt. Globalisierung und Automatisierung haben zu stagnierenden Reallöhnen geführt. Wer nichts hat, kann eben auch nicht konsumieren. Mit Blick auf diese düsteren Gewinnaussichten halten sich die Unternehmen mit ihren Investitionen zurück. Statt zu investieren geben sie ihr Geld lieber für Aktienrückkäufe und Dividendenausschüttungen aus. Zur Konsumschwäche kommt also der Investitionsstreik der Unternehmen.

      Gegen den Rat der Keynesianer weigern sich die Staaten, die schwächelnde private Nachfrage mit öffentlichem Konsum oder Investitionen auszugleichen. Spätestens seit den kostspieligen Rettungsaktionen der letzten Finanzkrise sind viele Staaten hoch verschuldet und versuchen ihre Finanzen durch harte Sparprogramme in den Griff zu bekommen. Mit jeder Null- und Sparrunde verschärft sich allerdings die Nachfragekrise.

      Diese aus keynesianischer Sicht kontraproduktive Politik basiert auf einem grundsätzlich anderen Verständnis der Rollen von Markt und Staat. Auch die ordoliberalen Erben Hayeks beobachten, dass es den Unternehmen immer weniger gelingt, neue Produkte zu entwickeln, die das Interesse der Konsumenten wecken. Als Ursache dieser Innovationsschwäche der Unternehmen wird jedoch der Staat ausgemacht, der unternehmerisches Engagement mit seinen sozialen, ökologischen, und normativen Auflagen erstickt. Investieren die Unternehmen nicht, wächst die Wirtschaft nicht. Wächst der Kuchen nicht mehr, zerreißen Verteilungskämpfe um die größten Stücke des Bestehenden die Gesellschaft. Würde man die Unternehmen dagegen von all dem Ballast befreien, den ihnen der Staat aufbürdet, könnten sie endlich wieder das tun, was von ihnen erwartet werden darf: mit innovativen Geschäftsmodellen wirtschaftliche Dynamik entfachen. Die Früchte des Wachstums würden dann allen zugutekommen (Trickle-down-Theorie).

      Als dem Industriekapitalismus in den 1970er-Jahren durch die steigenden Lohn- und Energiekosten und den wachsenden Wettbewerbsdruck die Puste ausging, setzten die Neoliberalen zum Befreiungsschlag an. Seit vier Jahrzehnten treiben sie nun schon eine Konterrevolution gegen alles voran, was in ihren Augen das freie Spiel der Marktkräfte behindert. Ihr Reformprogramm zur Überwindung der Krise des Kapitalismus setzt an fünf Stellen an:

      1.Mit Hochdruck werden die Produkte der Zukunft entwickelt. In der Hoffnung, endlich einen Ausweg aus der Wachstumsschwäche zu finden, werden riesige Summen in die Erforschung neuer Technologien investiert.

      2.Es werden Kosten reduziert, um im härter werdenden Wettbewerb um die gesättigten Märkte bestehen zu können. Das geschieht durch das Offshoring und die Automatisierung der Produktion, aber auch durch Lohndruck und den Rückbau des Wohlfahrtsstaates.

      3.Neue Kunden werden in den Wachstumsmärkten der Schwellenländer erschlossen. Nach der Globalisierung der Produktion wird also der Konsum globalisiert.

      4.In den gesättigten Heimatmärkten wird der Konsum durch private Verschuldung angeheizt.

      5.Wenn das alles nicht hilft, parken die Anleger ihr Kapital an den Börsen, um Spekulationsgewinne mitzunehmen.

      Doch heute stoßen alle diese Gegenstrategien an ihre ökonomischen, ökologischen, sozialen und politischen Grenzen. Schlimmer noch, die neoliberalen Strategien verschärfen die Nachfragekrise, die den Kapitalismus im Würgegriff

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