Transformativer Realismus. Marc Saxer
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Diese politischen Verschiebungen haben nach Jahren des Stillstands zum Durchbruch bei den globalen Verhandlungen über die Begrenzung der Erderwärmung geführt. Im Pariser Klimaabkommen verpflichteten sich alle 197 Vertragsparteien erstmalig verbindlich dazu, ihre Emissionen zu reduzieren. Diese internationalen Verpflichtungen werden nun, von manchen energischer als von anderen, in nationales Recht überführt. Viele Staaten haben damit begonnen, ihre Investitionen, Subventionen und Regularien neu auszurichten. Langsam aber stetig werden die Technologien und Infrastrukturen ausgebaut, um Mobilität, Wohnungssektor und Industrie klimaneutral zu organisieren.
Auf der anderen Seite wird die Erschließung fossiler Brennstoffe immer teurer. Die leicht auszubeutenden Vorräte in geringen Tiefen erschöpfen sich. Neue Technologien wie das Fracking-Verfahren erlauben es zwar, auch bisher ungenutzte Quellen wie Schiefergas anzuzapfen. Die hohen Kosten machen diese Unternehmen aber in einem Umfeld niedriger Preise unrentabel. Und tatsächlich kommt es auf dem Ölmarkt wiederholt zu Preiskämpfen um die verbleibenden Marktanteile.
Die englische Zentralbank warnte bereits im Jahr 2015 vor einer Carbon Bubble, also einer Blase im fossilen Energiesektor. Steigende Produktionskosten, strengere regulatorische Auflagen, wachsende Konkurrenz durch erneuerbare Energieträger und klimabewussteres Konsumverhalten schaffen ein Marktumfeld, in der sich die Ausbeutung bekannter Vorratsstätten nicht mehr lohnt. Das bedeutet aber, dass diese Vorräte rapide an Wert verlieren. Nach Schätzungen der Citibank könnten so bis zu 100 Billionen US-Dollar an Vermögenswerten in der fossilen Energieindustrie (stranded assets) vernichtet werden9. Wichtige Schlüsselindustrien haben damit begonnen, sich von der fossilen Energiewirtschaft zu entkoppeln. Diese könnte im perfekten Sturm zwischen einbrechenden Preisen für erneuerbare Energien, fallender Nachfrage nach Öl, und geopolitischem Streben nach Energiesicherheit vor dem Kollaps stehen. Die Analysten der englischen Zentralbank sagen daher eine Neubewertung der fossilen Industrie voraus. Die fossile Energiewirtschaft stößt also nicht nur an die ökologischen Grenzen des Planeten, sondern auch an die ökonomischen Grenzen ihres Geschäftsmodells.
Dennoch stößt die Energiewende immer wieder auf den Widerstand wichtiger Interessengruppen. Neben den fossilen Industrien gehören dazu auch all diejenigen, die sich um den Verlust von Arbeitsplätzen sorgen. Wirtschaftsliberale ziehen gegen Verbote und Regulierungen zu Felde. Von der Linken kommen Bedenken gegen die sozialen Auswirkungen höherer Energiepreise. Und gegen Windparks und Überlandleitungen demonstrieren sogar Umweltschützer.
Bislang ist es noch nicht gelungen, die Energiewende politisch so zu gestalten, dass auch Verlierer des Strukturwandels eine Zukunft darin sehen. Im Ergebnis muss daher jeder Fortschritt, wie etwa der Kohleausstieg, immer wieder mit zeitlichen Aufschüben erkauft werden. Im Kampf gegen den Klimawandel müsste die Energiewende aber eigentlich viel schneller als bisher vorangetrieben werden.
Aber selbst, wenn es gelingt, die Energiewende gegen den Widerstand der fossilen Kräfte umzusetzen, stellt sich die Frage, ob eine erneuerbare Ökonomie produktiver ist als eine fossile. Erneuerbare Energien sind zweifelsohne klimafreundlicher als fossile Brennstoffe. Geringere Energieentstehungs- und Grenzkosten sowie höhere Energieeffizienz tragen zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität bei. Andererseits sind höhere Energieeffizienz und geringere Energiekosten auch Anreize für einen höheren Energiekonsum (Reboundeffekt). Ob die Energiewende also mit Produktivitätssprüngen in derselben Größenordnung wie bei den letzten Industriellen Revolutionen einhergehen, ist offen.
Zweifelsohne haben die innovativen Produkte der Digitalwirtschaft neue Märkte erschlossen. Und selbstverständlich haben effizientere Vertriebsformen und Energiesysteme die Produktivität der Volkswirtschaften erhöht. Bisher haben allerdings weder die Digitalisierung noch die Energiewende eine Produktivitätsrevolution ausgelöst. Die Hoffnung, nach Jahren der Stagnation durch neue Produkte und höhere Produktivität einen neuen Wachstumszyklus auszulösen sind daher bislang nicht in Erfüllung gegangen.
Kapitel 2
Kostenreduzierung verschärft die Nachfragekrise
Trotz phänomenaler technologischer Fortschritte wächst die Produktivität nicht schnell genug. Ob sich die Hoffnungen, dass die Vierte Industrielle Revolution einen ähnlichen Wachstumsschub generieren könnte wie ihre Vorgänger, jemals bewahrheiten, steht in den Sternen.
Bis dahin gilt es, im immer härter werdenden globalen Wettbewerb um Marktanteile zu bestehen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, drücken die Unternehmen ihre Preise. Das setzt jedoch voraus, dass sie ihre Kosten verringern können.
Um die Arbeitskosten zu drücken, wurden die Gewerkschaften geschwächt oder zerschlagen. In den angelsächsischen Ländern, wo dieses Union Busting am weitesten fortgeschritten ist, sind die durchschnittlichen Reallöhne in den letzten 40 Jahren kaum gestiegen, während die Einkommen der Spitzenmanager sich verzehnfacht haben. Um die Herstellungskosten zu senken, wurden zudem im großen Stil Produktionsstätten in Länder mit billigen Arbeitskräften verlegt. Die Globalisierung der Arbeit übt indirekt Druck auf die Löhne in den alten Industrieländern aus. Die Furcht vor Arbeitsplatzverlusten treibt selbst progressive Volksvertreter in die Defensive. Auch in Deutschland haben Agendareformen und Lohnzurückhaltung die Reallöhne der unteren 40 Prozent der Arbeitnehmer gesenkt.
Die Strategie der Kostenreduzierung hat auch eine ideologische Dimension. Marktradikale sehen im Gemeinwohl nur Standortnachteile, in Löhnen nur Kosten und in Staaten nur erstickende Bürokratie. Der Wettbewerb mit den neuen Standorten in Osteuropa und Fernost lieferte den Marktradikalen den passenden Knüppel: Wenn wir unsere Anbieter nicht von allen Gemeinschaftsaufgaben entlasten, dann gehen sie – oder werden gefressen! Entsprechend munitioniert gingen neoliberale Reformer mit der Abrissbirne durch den staatlichen Regelungsrahmen.
Unter dem Schlachtruf der Standortsicherung wurden den Unternehmen ihre Beiträge zum Erhalt der Gesellschaft und der Umwelt erlassen. Steuern für die Reichen wurden gesenkt, Wohlfahrtsstaaten zurechtgestutzt, und die Risiken des Lebens – von Arbeitslosigkeit bis zu Krankheit – auf die Individuen abgewälzt. Begründet wurden die Kürzungsorgien mit den hohen Kosten für Gesundheitsversorgung und Renten in alternden Gesellschaften. Doch die eigentliche Motivation zeigte sich deutlich bei den Sozialtransfers im engeren Sinne. Umverteilt wurde fortan nicht mehr von oben nach unten, sondern von unten nach oben.
Die Reduzierung der Kosten macht zwar die Angebotsseite wettbewerbsfähiger, schwächt jedoch zugleich die Kaufkraft ihrer Kunden. Mit jeder Null- und Sparrunde vertiefte sich