Transformativer Realismus. Marc Saxer

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Transformativer Realismus - Marc Saxer

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die großen Unterschiede in den Lebensbedingungen auszugleichen, bräuchte es einen Umverteilungsmechanismus zwischen den europäischen Partnern.

      Die europäischen Verträge haben aber peinlich genau darauf geachtet, dass eben das nicht möglich ist. In der Coronakrise konnte der Ausbruch einer neuerlichen Eurokrise, und damit wohl das Ende des Euro, nur verschämt durch die Hintertür in Form von Zentralbankgarantien verhindert werden.

      Immerhin wurde nach langem Streit im Juli 2020 ein Rettungspaket verabschiedet, das erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union die gemeinsame Aufnahme von Schulden erlaubt. Berlin gibt damit zumindest temporär seinen Widerstand gegen die »Vergemeinschaftung von Schulden« in der »Transferunion« auf. Das europäische Wiederaufbauprogramm »Next Generation EU« ist ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung. Ein substanzieller Teil des europäischen Budgets von knapp 2 Billionen Euro fließt in die Förderung des European Green Deals, der die digitale, soziale und ökologische Transformation vorantreiben soll. Der Finanzierungshebel sorgt zudem dafür, dass ein wichtiger Wachstumsimpuls in die europäischen Volkswirtschaften gesendet wird. Ob dafür die gerade einmal 6,1 Prozent des europäischen Bruttoinlandsproduktes ausreichen, wird sich zeigen.

      Das europäische Dilemma

      Ob der Durchbruch bei der gemeinsamen Finanzierung des Konjunkturpaketes schon einen »Hamilton-Moment« markiert, wie viele Europhile jubelten, bleibt allerdings abzuwarten. Denn der Weg in eine politische Union ist lang und steinig. Der Blockadeversuch des Wiederaufbauprogramms durch Polen und Ungarn zeigte, wie weit die Vorstellungen der Mitgliedstaaten selbst in Grundsatzfragen wie der Rechtsstaatlichkeit auseinanderliegen. Hinter dem Gezerre um die Transferunion steht jedoch nicht nur nationalistischer Egoismus. Wenn die Steuerzahler zur Unterstützung ihrer europäischen Mitbürger zur Kasse gebeten werden, haben die demokratischen Souveräne ein Recht darauf, dass ihnen Rechenschaft darüber gezollt wird, wofür ihr Geld ausgegeben wird. Auf dem Spiel steht also nichts weniger als der älteste Grundsatz des Parlamentarismus: No taxation without representation. Das Beharren auf demokratischen Prinzipien ist keineswegs anti-europäisch. Ganz im Gegenteil kann die stärkere parlamentarische Kontrolle der europäischen Finanzen genau das Gegengift gegen die grassierende Angst vor dem Kontrollverlust sein, die einer tieferen Integration Europas im Wege steht.

      Ohne die Billigung der demokratischen Souveräne ist eine echte Fiskalunion, also ein Umverteilungsmechanismus in Form eines gemeinsamen Budgets unter parlamentarischer Kontrolle, nicht machbar. Der Einstieg in die politische Union bedarf also eines gemeinsamen Gründungsaktes. Wer die Vereinigten Staaten von Europa vollenden will, müsste also nicht weniger als 27 nationale Referenden für sich entscheiden. Allerdings erscheint es im gegenwärtigen Klima der Revolten gegen Brüssel nur schwer vorstellbar, dass die Völker Europas einer solch einschneidenden Übertragung von Souveränität zustimmen würden. Auch die Ausrufung einer Europäischen Republik erscheint in einem politischen Klima, das nach mehr nationaler Souveränität in einer scheinbar außer Kontrolle geratenen Welt dürstet (»Take back control«), unrealistisch.

      Hier liegt das eigentliche Dilemma Europas. Die Fehlkonstruktion der Währungsunion macht die Lösung der Eurokrisen innerhalb der bestehenden Verträge unmöglich. Solange die europäischen Bürger das europäische Projekt jedoch als Bedrohung empfinden, sind weitere Integrationsschritte politisch nicht durchsetzbar. Da der Status quo wirtschaftlich und sozial unhaltbar ist, öffnet der politische Stillstand Verteilungs- und Identitätskonflikten Tür und Tor, die die Europäische Union auseinanderzureißen drohen.

      Kapitel 6

      Billiges Geld treibt die soziale Ungleichheit

      Seit geraumer Zeit schafft neues Wachstum kaum noch neue Beschäftigung. Die digitale Automatisierung führt dazu, dass in der Krise verlorene Arbeitsplätze nicht durch neue ersetzt werden. Die postindustriellen Ökonomien haben immer weniger Verwendung für ungelernte Arbeit. Immer mehr Menschen können in den regulierten und sozial abgesicherten Arbeitsmärkten keinen Fuß mehr fassen, und jobben sich durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Dieses ökonomisch abgehängte und kulturell geächtete Prekariat leidet besonders unter den sozialen Folgen der Armut wie Fehlernährung, Drogenabhängigkeit, häuslicher Gewalt und Gewaltkriminalität. Aber auch die Löhne der Mittelschichten stehen unter Druck. Immer weiter frisst sich die Angst vor dem sozialen Abstieg durch die Gesellschaft. An der Spitze nimmt die Konzentration von Vermögen und Macht immer weiter zu. Am unteren Ende fallen immer mehr Menschen ins Prekariat. In Deutschland ist die soziale Ungleichheit so groß wie seit 100 Jahren nicht mehr14.

      Bis tief ins bürgerliche Lager hinein sind daher politische Entscheider bereit, die Selbstreinigungskräfte des Marktes zugunsten des Beschäftigungserhalts zu suspendieren. Aus ideologischen Gründen misstrauen die Ordoliberalen jedoch der direkten Intervention des Staates in den Markt. Die Rolle des Retters in der Not fällt daher den Zentralbanken zu.

      Als in der Finanzkrise 2008 der Infarkt im Herzen des globalen Kapitalismus drohte, begannen die Banken Geld zu drucken. Was ursprünglich als kurzfristige Rettungsmaßnahme gedacht war, hält bis heute an. Um den Bankrott gesunder Unternehmen zu verhindern und die wirtschaftliche Erholung zu ermöglichen, fluteten die Zentralbanken die Märkte in der Coronakrise 2020 wieder mit Liquidität.

      Was geschieht mit dem billigen Geld? An die Unternehmen kann es nicht weitergegeben werden, weil sich Schuldner mit schlechter Bonität nicht für Kredite qualifizieren. Und die Lektion der Subprime-Krise ist, es mit leichten Konsumentenkrediten nicht zu übertreiben. Also geben die Banken das billige Geld nicht weiter an die Realwirtschaft, sondern spekulieren damit in den Casinos der Finanzmärkte.

      Weil es kaum produktivitätsgetriebenes Wachstum gibt, bleibt Pensionskassen, Kleinanlegern und Investmentfonds kaum etwas anderes übrig, als in Vermögenswerte wie Immobilien, Aktien, Kunst oder Gold zu investieren. Ohne attraktive Anlagemöglichkeiten in der Realwirtschaft zirkulieren heute Beträge in Billionenhöhe um den Erdball. Besonders schädlich ist dieses Spekulationskapital auf den Immobilienmärkten. Stagnierende Löhne und explodierende Mieten nehmen Geld aus den Taschen der Konsumenten. Der Hamburger Wirtschaftssoziologe Aaron Sahr sieht in dieser Vermögenspreisinflation die eigentliche Ursache der rasant wachsenden sozialen Ungleichheit. Steigen die Vermögenswerte, profitieren nur die sehr wenigen, denen sie gehören, während die große Mehrheit von steigenden Mieten und Immobilienpreisen aus den attraktiven Wohnlagen verdrängt wird. Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer.

      Der Zombiekapitalismus verbindet das Schlechteste aus beiden Welten: Zocker befeuern mit Unmengen billigen Geldes die soziale Ungleichheit, während es Haushalten an Einkommen fehlt, um zu konsumieren. Genau hier liegt der Grund, warum sich die Wirtschaft trotz der lockeren Geldpolitik nicht erholt und die Bürger Europas unter hohen Mieten und Arbeitslosigkeit leiden. Das zur Rettung des Kapitalismus gedruckte Geld verschärft die Nachfragekrise, an der die Realwirtschaft krankt.

      Gibt es einen Ausweg aus dem Zombiekapitalismus aus wilder Spekulation, platzenden Blasen, teuren Rettungsaktionen und innovationsschwacher Wirtschaft? Die Ordoliberalen hoffen auf die Selbstreinigungskräfte des freien Marktes. In einer gesunden Volkswirtschaft könnte das Platzen von Blasen tatsächlich heilsame Wirkung entfalten. Schwache Unternehmen scheiden aus dem Markt aus, überschüssiges Kapital wird vernichtet, die gesunden Unternehmen werden profitabler, ein neuer Wachstumszyklus kann beginnen.

      Doch in einer politischen Ökonomie, in der acht Milliardäre mehr besitzen als die Hälfte der Menschheit, operieren die Märkte nicht nach wirtschaftlichen, sondern nach politischen Kriterien. Wenn die Einkommen der multinationalen Konzerne größer sind als die Nationaleinkommen von 85 Prozent der Staaten, wird die staatliche Regulierung des globalen Finanzkapitalismus zur Illusion. In einer derartig vermachteten politischen Ökonomie ist es nahezu unmöglich, die Bildung immer neuer Spekulationsblasen zu verhindern. Es ist also kein Zufall, dass der

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