Transformativer Realismus. Marc Saxer

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Transformativer Realismus - Marc Saxer

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zwei grundlegendere Konflikte verbergen, die das europäische Einigungsprojekt in seinen Grundfesten erschüttern.

      Erstens tobt nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Mitgliedsstaaten ein Verteilungskonflikt um die Frage, wer die gigantischen Kosten der Finanz-, Euro- und Coronakrise zu tragen habe. Sollte den überschuldeten Staaten erlaubt werden, ihre Schulden durch Anleihekäufe der Zentralbank wegzuinflationieren, oder sollten die Kosten über harte Sparpakete an die Schwächsten in den Gesellschaften weitergegeben werden? Vor allem die Verlierer dieser Verteilungskonflikte sind nicht bereit, das Wenige, was ihnen verbleibt, mit den europäischen Nachbarn zu teilen.

      Zweitens wirft der Streit um die »Transferunion« die Frage nach der Finalität auf, sprich: auf welche Endform das europäische Einigungsprojekt eigentlich zuläuft. Sind die Souveräne der Geberländer tatsächlich bereit, sich in eine Haftungsgemeinschaft mit ihren europäischen Nachbarn zu begeben? Und sind die Transferempfänger tatsächlich bereit, den Souveränitätsverlust hinzunehmen, der mit der demokratischen Kontrolle ihrer Fiskalpolitik einhergeht?

      Um die Kräfteverhältnisse in diesen Auseinandersetzungen besser einschätzen zu können, lohnt ein kurzer Rückblick auf die politische Ökonomie der europäischen Einigung.

      Das europäische Einigungsprojekt gründet auf zwei zentralen Versprechen: durch Zusammenarbeit Frieden und Wohlstand für alle zu schaffen. Die Gründungsväter Europas vergemeinschafteten die kriegswichtigen Industrien Atom, Kohle und Stahl mit dem Ziel, die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten so zu verschränken, dass sie nie wieder in der Lage sein würden, Krieg gegeneinander zu führen. Und tatsächlich herrscht in großen Teilen Europas seit mehr als 70 Jahren Frieden; die längste Friedenszeit, die der kriegszerrüttete Kontinent jemals erlebt hat.

      Gebrochen wurde dagegen aus Sicht vieler Europäer das Wohlstandsversprechen12. Statt für einheitliche Lebensverhältnisse zu sorgen, entwickeln sich die Wohlstandsniveaus innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten immer weiter auseinander.

      Das liegt nicht zuletzt an einer Fehlkonstruktion des Herzstücks der wirtschaftlichen Union, der gemeinsamen Währung. Am Anfang der Gemeinschaftswährung stand ein Kuhhandel. Die skeptischen Europäer stimmten der deutschen Wiedervereinigung nur unter einer Bedingung zu: Die größte Volkswirtschaft Europas musste auf ihre eigene Währung verzichten. Vor allem die Franzosen befürchteten, dass ihnen der deutlich bevölkerungsreichere Nachbar den Rang ablaufen würde. Die Beschneidung der Kompetenzen der mächtigen Bundesbank sollte die Machtarithmetik Europas langfristig sichern. Die Europäisierung der harten deutschen Währung gab zudem den neoliberalen Reformern in Frankreich und Italien, die auf sich allein gestellt den Rückbau ihrer Sozialstaaten in den nationalen Kräfteverhältnissen nicht durchsetzen konnten, die Möglichkeit, soziale Einschnitte durch den externen Zwang der Märkte zu begründen oder durch Mandate aus Brüssel zu legitimieren13.

      Für die europäische Friedensordnung war der Handel »deutsche Wiedervereinigung gegen Verankerung des geeinten Deutschlands in Europa«, wie er in den Verträgen von Maastricht festgeschrieben wurde, ein Segen. Wirtschaftliche bewirkte die Vergemeinschaftung der Währung das jedoch das exakte Gegenteil ihrer ursprünglichen Intention. Gegenüber der alten D-Mark ist der Euro weicher, und verbilligt damit die deutschen Exporte auf dem Weltmarkt. Zugleich machte die Unterdrückung der Lohn- und Sozialkosten der Agendapolitik die deutsche Wirtschaft konkurrenzfähiger. Ohne die Möglichkeit, die eigene Währung abzuwerten, hatten die weniger produktiven Volkswirtschaften der Eurozone kein Ventil mehr, um diesen Konkurrenzdruck auszugleichen. Im Ergebnis drückte die deutsche Exportwirtschaft ihre europäischen Wettbewerber an die Wand. Politisch zu schwach, ihre Gesellschaften ebenfalls einer neoliberalen Rosskur zu unterziehen, nutzten die südeuropäischen Euroländer lieber die günstigen Konditionen an den Anleihemärkten, um ihre Ausgaben auf Pump zu finanzieren. Das rächte sich bitter, als die gigantischen Kosten der Finanzkrise 2008 zu Buche schlugen. Mit den explodierenden Staatsschulden versiegten auch die erschwinglichen Kredite. Damals wie heute stand er Staatsbankrott einiger Euroländer im Raum.

      In der Not riefen die strauchelnden Südländer ihre europäischen Partner zu Hilfe. Doch die »Austeritäts-Ayatollahs« des Nordens wollten von der »Vergemeinschaftung der Staatsschulden« nichts wissen. Den »faulen Südländern«, die »jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt« hätten, wurden derartig drakonische Strukturanpassungsprogramme auferlegt, dass der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis von »wirtschaftlichem Waterboarding« sprach. Italien und Griechenland haben sich von dieser Dekade der Austerität nie erholt.

      Die Coronakrise hat weite Teile Europas in eine tiefe wirtschaftliche Rezession mit verheerenden sozialen Folgen gestürzt. Um die Wirtschaft wiederaufzubauen, müssen die Staaten kräftig investieren. Was im Norden Europas möglich ist, können sich die hoch verschuldeten Südeuropäer aber nicht leisten. Im Gegenteil, Italien, Spanien und Griechenland drohen in einem Teufelskreis aus Rezession, Schulden und Arbeitslosigkeit zu versinken.

      Aus den Hilferufen nach Eurobonds wurden daher erbitterte Forderungen nach Coronabonds. Moralisch ließen sich diese Solidaritätsappelle nun nicht mehr durch den Verweis auf Eigenverschulden abtun. Politökonomisch blieb die Streitfrage jedoch dieselbe: Lassen die fiskalisch gesunden Nordeuropäer ihre europäischen Partner an ihrem privilegierten Zugang zu den Finanzmärkten teilhaben? Oder umgekehrt: Wie hoch ist der Preis für den europäischen Zusammenhalt?

      Hier zeigt sich, dass die Staatsschuldenkrise nur ein Teil der Solidaritätskrise ist, die Europa seit geraumer Zeit entzweit. In der Ukrainekrise war Westeuropa nicht solidarisch mit Osteuropa, in der Eurokrise verweigerten die Nordeuropäer den Südeuropäern die Solidarität und in der Flüchtlingskrise waren es die Osteuropäer, die sich nicht solidarisch zeigten. Brexit-Großbritannien wendet sich ganz von der Europäischen Union ab, und erhält dafür Beifall aus Warschau und Budapest. In der Coronakrise setzten die Mitglieder zunächst auf nationale Alleingänge. Der serbische Präsident sprach offen aus, was auch viele EU-Mitgliedsländer denken: Die europäische Solidarität sei eine Fantasie – in der Not könne man sich nur auf China verlassen.

      Ausgerechnet die Währungsunion, die doch zur Konvergenz der Wohlstandsniveaus führen sollte, spaltet die Europäer. Hier zeigt sich nun, dass der Kuhhandel um den Euro eine nicht lebensfähige Konstruktion hervorgebracht hat. Aus Sicht vieler Europäer wurde der Gesellschaftsvertrag des europäischen Integrationsprojektes, für Frieden und Wohlstand auf nationale Souveränität zu verzichten, gebrochen.

      Langfristig funktioniert die EU nicht ohne Angleichung der Lebensverhältnisse

      Seit der Eurokrise halten die Anlagenkäufe der Europäischen Zentralbank die verschuldeten Südeuropäer über Wasser. Auf Dauer ist den Südeuropäern aber mit Krediten nicht geholfen.

      Um die politischen Fliehkräfte zu mildern, die die Eurozone auseinanderreißen könnten, müssen sich die Europäer auf die Angleichung der Lebensverhältnisse verpflichten. In Bundesstaaten wie den

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